Ungleiche Brüder
Herkunft, Familie – was uns ausmacht
Jackie Thomae ist in Leipzig aufgewachsen. Ihren Vater, ein Zahnarzt aus Aachen, geboren in Guinea, lernte sie erst als Erwachsene kennen, die Mutter zog das Kind alleine groß. Nun also schreibt die Journalistin und Schriftstellerin über zwei Brüder, deren Vater aus dem Senegal zum Medizinstudium in die DDR kam, und als er sich wieder verabschiedet, die Kinder bei der jeweiligen Mutter in der DDR lässt, das eine in Berlin, das andere in Leipzig.
Bietet es sich da nicht wunderbar an, den Roman gleich mal aufs Autobiografische runterzubrechen, und daran das gemeinsame Thema zu verhandeln: Was es zum Beispiel ausmacht, als einziges Kind in seinem Umfeld mit dunklerer Hautfarbe aufzuwachsen… Nur: So einfach macht es Jackie Thomae den Lesern in ihrem Roman „Brüder“gerade nicht. Ihre zwei Brüder, die sie im Roman begleitet, zeigen eher, wie ziemlich egal das alles sein kann für den eigenen Lebensentwurf, wie alle Erfahrungen immer individuell erlebt und verarbeitet werden, wie die eigene Hautfarbe als eine Eigenschaft von vielen für einen selbst im Grunde gar kein Thema sein mag, aber das Umfeld gerne eines draus macht. „Sag mal, werdet ihr braun“, mit solchen Fragen zum Beispiel.
Mick und Gabriel jedenfalls sind zwei Protagonisten, die bis auf den abwesenden Vater, das Geburtsjahr 1970, und das Geburtsland, erst einmal wenig gemein haben. Je eine Hälfte des Romans ist einer Hauptfigur gewidmet, zwei Leben, die sich nicht einfach zum Ganzen verweben lassen, wohl aber zu einem der besonderen Romane dieses Literaturherbstes. Da ist also zum einen Mick, Sonnyboy ohne Ehrgeiz, Frauenliebling, Clubbesitzer, der in den hedonistischen neunziger Jahren in Berlin sein Leben auf der großen Spaßwelle surft: „Gewummer, Gestampfe, Getränke, Gelaber, Gefühle. Ja, die Jahre flossen ineinander.“ Bis dann die Welle kippt. Seine Freundin Delia, Juristin, schmeißt nach Jahren hin, weil Mick dann doch einmal zu viel vergessen hat, ihr elementar Wichtiges für die Lebensplanung mitzuteilen. Die Steuerbehörde spinnt auch. Nächste Station: Thailand, einsame Hütte.
Sein Halbbruder Gabriel ist so etwas wie der Gegenentwurf: einer mit Plan, Stararchitekt in London, Workaholic, verheiratet mit der großen Liebe Fleur, ein Sohn. Aber: „Meine Zeit reichte nicht aus für das Leben, das ich mir ausgesucht hatte.“Ein Problem, was sich insofern erledigt, als er sein Leben durch eine Wutattacke gegen eine Studentin selbst vaporisiert, die ihren Hund sein Häufchen direkt an seinem Rennrad machen lässt. Was ironischerweise, weil die Studentin dunklere Hautfarbe besitzt, auch als rassistischer Angriff gewertet wird. Die Ehefrau dreht gleich mit am Rad. Nächste Station: Brasilien, einsame Villa. Das alles ist auf über 400 Seiten mit großer Lässigkeit erzählt, mit feinem Gespür für Zeit- und Lokalkolorit speziell der Berliner Nachwendejahre. Was man am Anfang vermissen kann: ein unverwechselbarer Ton. Bis man sich dann auf dieses coole, undramatische und fast emotionslose Erzählen eingestellt hat, das einen als durchgehender Sound durch diesen auch einfach unterhaltsamen Roman trägt.
Was also macht uns aus? Herkunft, Familie, Freundschaft, Bildung, Liebe… Jackie Thomae schreibt mit weitem Blick, verweigert sich Klischees, Kategorisierungen, Zuschreibungen. Sie zeigt Rassismus, nicht als beherrschendes, sondern eher als gelegentliches Störelement im Leben der ungleichen Brüder. Hautfarbenstress, nennt es Gabriel. Wie man darauf reagiert, auch Typsache. Auf die Frage, „werdet ihr braun?“, schiebt Mick einfach den Rand der Badehose etwas nach unten.