Mit Fußball baut er Brücken
Silberdistel Das Herz von Fritz Quien schlägt für Menschen mit Behinderung. Wie der Günzburger den Sport nutzt, um sie besser in unsere Gesellschaft zu integrieren
Günzburg/Fellbach Ein Fußballspiel zu verlieren, bescheinigt der Jugendliche seinem Trainer Fritz Quien, ist für ihn kein Problem. „Niederlagen habe ich schon viele erlebt in meinem Leben. Aber hier habe ich einmal die Chance, dazuzugehören.“Der 58 Jahre alte Quien hat sich die Selbsterkenntnis seines Schützlings gemerkt, der zum Kreis derjenigen zählt, die man zeitgemäß wohl als „Menschen mit mentaler Beeinträchtigung“bezeichnet. „Geistig Behinderte“hieß früher die Personengruppe. Heute wird auf diese eher grobschlächtige und die unterschiedlichste Art von Beeinträchtigungen nicht gerecht werdende Einordnung weitestgehend verzichtet.
Das macht das Problem nicht kleiner für die betroffenen Menschen, denn nach wie vor werden sie ausgegrenzt und ausgeblendet, beobachtet Quien. Berührungspunkte mit der Welt der Menschen, die nicht mit diesem Handicap umgehen müssen, gebe es eher selten. „Wir haben zwar ein Teilhabegesetz“, sagt Quien, der seit sieben Jahren in Günzburg wohnt. „Aber dieses Recht gibt es häufig nur in der Theorie und nicht in der Praxis.“
Auch in der Welt der Behinderten rangieren die Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen nach Einschätzung von Quien ziemlich weit hinten. Auf einer Bildungsmesse habe er das kürzlich erleben müssen: „Rollstuhlfahrer wollten mit unseren Jungs und Mädchen nichts zu tun haben.“Und selbst innerhalb der Gruppe, die der gebürtige Oberschwabe Quien in Baden-Württemberg regelmäßig betreut, gebe es Unterschiede. Menschen mit Downsyndrom sind seiner Erfahrung nach gerne unter sich – und würden bevorzugt ausgewählt werden, wenn Fotos für Sponsoren gemacht werden sollen oder wenn Geldgeber ihr soziales Engagement sichtbar machen wollen. Denn den anderen sehe man ihre Beeinträchtigung nicht immer so stark an.
Im achten Jahr betreut Quien nun die baden-württembergische Landesauswahl der Menschen mit mentaler Beeinträchtigung. Außerdem hat er die über das Bundesland verteilten Stützpunkte aufgebaut. Sieben sind es inzwischen, der jüngste Stützpunkt ist vor wenigen Monaten in Ulm entstanden. Vier- bis sechsmal im Jahr werden hier Fußballtage angeboten – eine Möglichkeit für die Menschen mit Handicap, sich zu treffen, sich sportlich zu betätigen und sich wertgeschätzt zu fühlen.
Im Großraum Stuttgart selbst wird die Trainingsmöglichkeit regelmäßig angeboten. Kinder, Jugendliche und Erwachsene wechseln sich in ihren Altersgruppen ab und sind jede dritte Woche am Start – im Sommerhalbjahr auf einem Fußballplatz in unmittelbarer Nähe zum Sportgelände des VfB Stuttgart, im Winter auf einem angemieteten Court einer Soccerhalle in Fellbach.
Die dritte Säule schließlich ist neben Landesauswahl und Stützpunkten der Bereich Bildung. Die Initiative soll auf Messen und Ausstellungen vorgestellt werden. Multiplikatoren wie Sportlehrer werden für spezielle Lehrgänge an die Sportschule Ruit vor den Toren Stuttgarts eingeladen. Das gelingt nur, weil Quien auch zum Trainerlehrstab des Württembergischen Fußballverbandes (WFV) gehört und sich um dieses Feld kümmert.
All die Aktivitäten machen das „Projekt für inklusive Fußballförderung“– kurz „Pfiff“– aus, das unter dem Dach des Fußball-Zweitligisten VfB Stuttgart angesiedelt ist. Einzelne Stiftungen sind ebenfalls beteiligt. „Aber ohne den VfB und das Engagement aus dem Sponsorenkreis würde es das alles nicht geben.“
Der Einsatz Quiens ist nicht auf den Südwesten beschränkt. An der Sportschule Oberhaching bei München, die der Bayerische Fußballverband (BFV) mitträgt, hält er als Referent regelmäßig Lehrgänge ab. Und falls große Behinderteneinrichtungen im Landkreis Günzburg wie Ursberg auf seinen Rat zurückgreifen wollen, „stelle ich mich gerne zur Verfügung“.
Natürlich hat der Günzburger Quien Glück, dass er im Öffentlichen Dienst arbeitet – als Lehrer an der Gustav-Werner-Schule im Ulmer Stadtteil Böfingen, die sich, wie Quien auf dem Fußballplatz, ebenfalls um junge Menschen mit mentaler Beeinträchtigung kümmert. Hier ist er wegen des Projekts vom Großteil seiner Unterrichtsverpflichtungen freigestellt. Sieben Stunden Unterricht pro Woche, die nicht auf alle Wochentage verteilt sind, lassen ausreichend Spielraum, um alle organisatorischen und koordinativen Arbeiten für „Pfiff“zu erledigen, um das Netzwerk weiter zu spinnen – vor allem aber, um auf den Sportplätzen zu stehen und den Menschen mit Handicap ein sportliches Gemeinschaftserlebnis zu bieten.
Um die 700 Menschen erreicht der Günzburger mit seinen Helfern derzeit damit. Anders als bei der
Landesauswahl, die sich dieses Jahr beispielsweise in Reutlingen bei der Deutschen Meisterschaft mit anderen Teams misst, ist der Leistungsgedanke überhaupt kein Thema. Noch vor sieben Jahren hat Quien als Co-Trainer der württembergischen U18-Junioren den DFB-Länderpokal gewonnen. Der Kapitän des Teams hieß damals Joshua Kimmich.
Aber das ist Vergangenheit. In der Gegenwart geht es Quien darum, benachteiligten Menschen mit dem Spiel Fußball zu helfen – und Talenten eine Brücke zu bauen mit dem Ziel, sie an einen inklusiv arbeitenden Sportverein zu vermitteln. Vereinspatenschaften, Schulpatenschaften und Trainingstage in den Stützpunkten mit inklusivem Charakter sind Herausforderungen, denen sich Quien künftig verstärkt stellen möchte. Der Weg dorthin ist lang und holprig – und es geht langsam und manchmal gar nicht voran.
Für den gesamten bayerischen Regierungsbezirk Schwaben listet der BFV auf seiner Homepage mit dem 1. FC Sonthofen gerade einen Sportverein auf, der inklusiv tätig ist. Ernüchternd. „Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen haben einfach keine Lobby“, sagt der Trainer mit A-Lizenz. Stimmt nicht so ganz: Fritz Quien gehört zu den großen Fürsprechern und zeigt auf dem Feld des Fußballsports mit Taten, was und wer alles bewegt werden kann. Deshalb erhält er die Silberdistel unserer Zeitung, eine Auszeichnung für besonderes gesellschaftliches Engagement.