Die freche Fledermaus und das funkelnde Feuerwerk
Märchen Aus lauter Neugier flattert der kleine Kurt an Silvester seiner Familie in Unterliezheim davon und bringt sich dabei selbst in Gefahr
Jeden Abend erzählt das Sandmännchen eine kleine Geschichte. Zum Schluss greift es in sein Säckchen und streut Schlafsand. Dann schlafen alle Kinder selig ein. Vor 60 Jahren wurde das Sandmännchen zum ersten Mal im Fernsehen ausgestrahlt. Zum Jubiläum erzählen wir auch kleine Gute-NachtGeschichten aus der Region. Zum Vorlesen, zum Selberlesen, zum Einschlafen.
Unter dem Dach eines ehemaligen Klosters wird es mitten in der Nacht plötzlich laut. Dort, in Unterliezheim, lebt eine Fledermaus-Familie. Und wie es so in einer Familie ist, gibt es manchmal Streit. Normalerweise hält Familie Klein, so heißen die vier Fledermäuse mit Nachnamen, jetzt Winterschlaf. Da hängen die vier kopfüber unter dem Dach und dösen vor sich hin. Doch jetzt sorgt Kurt für Ärger – und alle sind mit einem Schlag wach: die Eltern von Kurt, Klara und Klaus, und seine kleine Schwester Konny. Mutter Klara ist außer sich: Ausgerechnet jetzt, vor der schlimmsten Nacht des Jahres, wird Kurt aufmüpfig. Klara kann es nicht fassen. Denn eigentlich sind ihre Kinder ganz lieb. Ist ja auch einfach: Sie haben kein Spielzeug, das herumliegen kann, müssen nie Hausaufgaben machen oder aufräumen. Fledermäuse brauchen es nur dunkel. Nicht ordentlich. So herrscht bei Familie Klein normalerweise totale Harmonie.
Nur ein Mal im Jahr hängt der Haussegen schief: Papa Klaus will immer das Silvesterfeuerwerk sehen. Der Rest der Familie war bislang dagegen und floh in dieser einen Nacht in den dunklen Wald. Doch dieses Jahr will Kurt auch die bunten Raketen am Himmel explodieren sehen. Damit steht es in der Familie jetzt zwei zu zwei. Während Klara und Konny lieber in den ruhigen Wald wollen, zieht es die Jungs wie Motten ans Licht. „Ich habe Angst um dich, verstehst du das denn nicht?“, redet Klara auf Kurt ein. Doch der hat den Kopf eingeschnappt unter den Flügel gesteckt und schweigt. „Ich passe schon auf ihn auf“, beschwichtigt Klaus seine Frau. „Und wie wollt ihr vermeiden, dass ihr von einer Rakete getroffen werdet?“Klara ist sehr vorsichtig. Das Leben als Fledermaus ist ohnehin nicht leicht. Dauernd die
Angst, dass jemand ihr Zuhause unter dem Klosterdach entdeckt. Die Angst, dass eine Eule ihre Kinder schnappt. Aber das alles wird von Silvester getoppt, wenn dutzende, kunterbunte, laute Raketen durch den Nachthimmel jagen. Nur tief drin im Wald ist man davor sicher, denkt Klara. Da möchte sie mit den Kindern wieder hin. Als es am späten Silvesternachmittag dunkel wird, packt sie ihren Sohn am Flügel und zieht ihn mit sich und der kleinen Konny hinaus in den Wald. Kurt lässt das alles scheinbar geduldig über sich ergehen. Doch kaum ist das Trio im Wald angekommen, büxt er aus und fliegt davon.
Klara ist völlig verzweifelt. Sie kann Klaus nicht erreichen. Und Konny nicht allein lassen. So schlingt sie ihre Flügelchen um ihre
Tochter, und innig verschlungen hängen die beiden vom Baum und machen sich Sorgen.
Kurt dagegen ist ganz ruhig. Er ist ja sonst im Sommer nachts auch allein unterwegs, was soll heute anders sein? Mit kurzen kräftigen Flügelschlägen lässt er den schwarzen Wald hinter sich und flattert Richtung Bissingen.
Plötzlich hört die kleine Fledermaus ein Zischen. Da schießt haarscharf eine bunte Rakete am linken Flügel vorbei und explodiert einen Augenblick später am dunklen Nachthimmel. Rote Pfeile erleuchten den Himmel. Jetzt bekommt der kleine Fledermäuserich doch Angst. Aber zurück in den Wald? „Niemals, ich bin schließlich schon groß!“, denkt sich Kurt und flattert weiter. Links vor sich kann er im
Schein der nächsten Rakete die Kapelle von Hochstein erkennen. Bis Bissingen ist es jetzt nicht mehr weit. Irgendwo dort sitzt Papa Klaus herum und wartet auf das große Feuerwerk. Normalerweise können sich die Kleins die ganze Nacht verständigen. Mit unglaublich hohen Tönen, die kein Mensch hören kann. Aber Kurt hört gar nichts. Bis auf die nächste Rakete. Es tut einen gewaltigen Schlag, dann leuchtet alles taghell und irgendetwas fällt Kurt auf den Kopf. Er wird ohnmächtig, verliert das Gleichgewicht und stürzt in das Dunkel unter sich. Sein kleiner, grauer Körper fällt ins feuchte, eiskalte Gras und bleibt reglos liegen. Dann schlägt eine Kirchturmuhr in der Ferne Mitternacht, und ein gewaltiges Feuerwerk erleuchtet den Himmel. Ein
Höllenlärm bricht los, und Kurt erwacht. Staunend beobachtet er die verschiedenen grellbunten Farben am Himmel. Gewaltige Sterne in Rot, Blau oder Gold tauchen wie auf einer pechschwarzen Leinwand auf, und jedes Mal leuchten Kurt und seine Umgebung dann mit auf. Völlig fasziniert liegt die Fledermaus im Gras und schaut hinauf. Seine Familie hat sie völlig vergessen.
Irgendwann ist das Feuerwerk vorbei. Da erst bemerkt Kurt, wie kalt und nass das Gras ist. Und vor allem, dass er ganz alleine ist. „Ach, nach Unterliezheim finde ich schon, und da sind alle ab morgen Nacht auch wieder“, denkt sich der kleine Kerl, rappelt sich auf und flattert mühsam los. Ein Glück, dass er sich so gut orientieren kann, denn tatsächlich findet Kurt zurück nach Hause.
Doch es ist einsam ohne die anderen drei. Sehr einsam. Sehr dunkel. Kurt vermisst seine Familie plötzlich schrecklich. Er beginnt, sich Vorwürfe zu machen. Seine Eltern werden sich sicher Sorgen machen! Kurts schlechtes Gewissen wächst den ganzen Tag über an; was hat er sich nur dabei gedacht, einfach abzuhauen? Was hätte ihm alles passieren können?
Endlich wird es draußen wieder dunkel. Da hört Kurt mit seinen guten Ohren sachte Flügelschläge. „Ihr seid zurück!“, jubelt Kurt überglücklich. Mit ganz verheulten Augen, aber sehr, sehr erleichtert schließt seine Mama Klara ihn in ihre Flügel. Klaus und die kleine Konny wickeln sich drum herum. Dann schlafen alle kopfüber hängend und heilfroh ein.