Massenflucht vor Assads Bomben
Syrien Verzweifelte Zivilisten wollen die Europäer mit Protesten auf das Leid im Kampfgebiet Idlib aufmerksam machen
Istanbul Sie fühlen sich verraten, verkauft und in der Sackgasse: In der syrischen Provinz Idlib werden Flüchtlinge von anrückenden Regierungstruppen auf die geschlossene Grenze zur Türkei zugetrieben. Rund 700000 Menschen fliehen nach US-Angaben vor den Kämpfen in der letzten Rebellenhochburg Syriens, die mit russischer Hilfe nach und nach von den Truppen von Präsident Baschar al-Assad erobert wird. Nun wollen die verzweifelten Zivilisten die internationale Gemeinschaft mit einer Protestaktion zum Handeln bewegen.
Unter dem Motto „Von Idlib nach Berlin“wollen sich an diesem Sonntag mehrere tausend Menschen an der türkischen Grenze versammeln. „Wir haben keine Wahl“, erklärte Abd Ulrazak Awad, einer der Organisatoren der Aktion. „Entweder
sterben wir durch Assads Fassbomben und chemische Waffen – oder wir gehen alle nach Europa.“
Awad und andere Aktivisten wollen Deutsche und Europäer dort packen, wo sie am empfindlichsten sind – an der Angst vor einer neuen Flüchtlingswelle. Im Aufruf für die Protestaktion hieß es am Freitag, die Flüchtlinge sollten sich an der Grenze gegenüber der türkischen Stadt Reyhanli versammeln und auf Transparenten ihre Ziele in Europa kundtun. Die Teilnehmer sollen jedoch nicht versuchen, die geschlossene Grenze zu überqueren. „Die Türken sind nicht unsere Feinde“, hieß es in dem Aufruf. „Wir wollen, dass unsere Botschaft über ihr Land nach Europa geht.“
Hinter der Aktion steht blanke Verzweiflung. Die Auffanglager im syrisch-türkischen Grenzgebiet sind schon lange überfüllt, die humanitären Bedingungen sind katastrophal.
„Es ist so überfüllt, es gibt keinen Platz mehr“, sagte eine syrische Oppositionelle in der Türkei unserer Redaktion. „Es gibt nicht einmal Zelte.“Die internationale Gemeinschaft schaue dem Leid untätig zu. Ahmad Abazed, ein syrischer Aktivist, sagte, der Hauptzweck der geplanten Kundgebung sei zwar der
Appell an Europa, doch könnten einige Flüchtlinge versuchen, über die Grenze zu kommen.
Die Türkei will das unter allen Umständen verhindern. Sie hat bereits 3,6 Millionen Syrer aufgenommen und betrachtet ihre Aufnahmefähigkeit als erschöpft. Türkische Organisationen haben in Idlib mit dem Bau winterfester Unterkünfte für Kriegsvertriebene begonnen; auch Deutschland will sich nach den Worten von Bundeskanzlerin Angela Merkel an dem Projekt beteiligen. Doch die Flüchtlinge wollen mehr als Unterkünfte. Sie wollen, dass der Krieg aufhört.
Danach sieht es derzeit nicht aus. Assads Truppen konnten vor einigen Tagen die strategisch wichtige Stadt Maarat al-Numan in Idlib einnehmen. Der syrische Präsident will mit russischer Hilfe die Provinz – die letzte Hochburg der Regierungsgegner nach fast neun Jahren Krieg – unter seine Kontrolle bringen. Mehrere Vereinbarungen zwischen Assads Schutzmacht Russland und der Türkei über einen Waffenstillstand in Idlib konnten die Kämpfe nicht stoppen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan droht deshalb mit einem Einmarsch seiner Armee in Idlib.