Die Frage der Woche Fremde maßregeln?
Wer meint, lässig bei Rot über die Fußgängerampel schlendern zu müssen, während dort Kinder warten – der kann sich auf einen Spruch gefasst machen. Wer seine schmutzigen Schuhe auf dem Sitzpolster des öffentlichen Busses ablegt oder dort meint, nicht für einen deutlich älteren Fahrgast aufstehen zu müssen – der hat sich eine Zurechtweisung verdient. Wer sich dreist in der Schlange an der Supermarktkasse vorzudrängeln versucht – der sollte gemaßregelt werden. Wer in der Öffentlichkeit blökt, man dürfe in diesem Land ja nicht mehr seine Meinung sagen und dabei eben das ausführlich tut – der sollte doch auch mit dem so offenkundigen Widerspruch seines Geweses konfrontiert werden.
Aber klar, auch wenn hier problemlos noch viel mehr Beispiele anzuführen wären: Man kann das auch ganz leicht übertreiben, übergriffig werden bei etwas, das zur freien Lebensgestaltung des anderen gehört und einen selbst halt einfach nervt oder einem nicht passt. Also: keine geschmäcklerische Bevormundung, keine Hypermoral im Alltagsverkehr, bitte.
Aber etwas anderes ist eben, wenn’s eindeutig und unmittelbar asozial wird. Dann beginnt nämlich der Bereich, bei dem wir uns dem doch so gern beschworenen Begriff der Zivilcourage nähern. Wo wir uns doch wünschen, dass es, und freuen, wenn es mal Menschen gibt, die aus der bequemen Vereinzelung in der Öffentlichkeit treten, sich persönlich mitverantwortlich fühlen und aufstehen, um ein vor ihren Augen geschehendes Unrecht gegen einen anderen, einen eigentlich Fremden zu verhindern. Gesicht zeigen, den Mund aufmachen: Hier – aber bitte ohne allzu dröhnendes Rechthaben – lässt sich die Überwindung der Schwelle zur Zivilcourage im Kleineren üben.
Es gibt viele Dinge, die der Mensch auch deswegen tut, weil er annimmt, er fühle sich dann ein bisschen besser. Oft liegt er damit falsch! Beim Maßregeln von Fremden – Kinder, Partner und Haustiere also ausgenommen – ist das fast immer der Fall. Nehmen wir zum Beispiel einen typischen Fall: Person A geht bei Rot über die Ampel, obwohl Person B mit Kind brav am Gehsteig wartet.
Klar, unmöglich. Was aber passiert, wenn Person A von Person
B nun ein „Was sind Sie denn für ein Vorbild für Kinder“hinterhergeschleudert bekommt, während sie hurtig über die Straße spurtet. Eine Möglichkeit: Person A ist das völlig wurscht, dreht sich nicht einmal um. Person B ärgert sich noch mehr, das Kind lernt die Machtlosigkeit der Eltern kennen. Andere Möglichkeit: Person A dreht sich um, macht eine unqualifizierte Bemerkung, Person B ärgert sich noch viel viel mehr, redet sich in Rage und das Kind lernt: Eltern haben sich nicht immer im Griff. Fazit also: Alles blöd!
Und die Frage ist ja auch die: Warum will ich den anderen maßregeln? Um ihn zu erziehen? Oder doch um ihn öffentlich bloßzustellen, ihn sozusagen bestrafen, weil er eine soziale Norm missachtet hat? Achte ich aber in dem Moment eigentlich den anderen, der sich zwar offensichtlich falsch verhält, vielleicht aber ja auch aus einem Grund, den ich nur nicht kenne? Vielleicht hat es Person A wirklich fürchterlich eilig, bleibt sonst immer brav an der Ampel stehen? Vielleicht hat sie – anderes Beispiel – einfach nicht bemerkt, dass da nebendran Leute brav in der Schlange warten und ist deswegen direkt zur Verkäuferin gegangen, um ihre Brezen zu bestellen. Und werde ich mit meinen Erziehungsmaßnahmen irgendetwas bewirken, obwohl es doch bei den Kindern schon so irre schwierig ist? Eben!