Wertinger Zeitung

Missbrauch im Kinderheim: Schon 28 Opfer

Verbrechen Neben Reitenbuch wurden auch im Kinderheim Baschenegg Schutzbefo­hlene offenbar Opfer von Übergriffe­n. Die ermittelnd­e Kommission geht von einer hohen Dunkelziff­er aus

- VON PHILIPP KINNE UND MAXIMILIAN CZYSZ

Ustersbach/Fischach Nachdem das Kinderheim in Reitenbuch in den Fokus eines Missbrauch­sskandals rückte, werden nun auch Fälle aus dem Marienheim in Baschenegg bekannt. Fünf Opfer meldeten sich bei der neu eingericht­eten Expertengr­uppe, welche die Vorfälle in der Zeit von 1950 bis 1985 aufklären soll. Die Leiterin dieser Gruppe, die frühere Richterin Elisabeth Mette, spricht von „körperlich­en Übergriffe­n“. Weitere Erkenntnis­se zu den Vorfällen in Baschenegg liegen bislang nicht vor. Gemeldet haben sich auch neue Opfer aus dem Kinderheim in Reitenbuch.

Vor rund drei Wochen wurden Missbrauch­sopfer erstmals dazu aufgerufen, sich an die Expertenko­mmission zu wenden. Zwölf weitere Opfer aus dem Heim in Reitenbuch haben sich seither gemeldet, erklärt Elisabeth Mette auf Nachfrage. Zusätzlich sind zahlreiche Hinweise von Zeugen eingegange­n. Die meisten berichten von körperlich­er, ein Opfer von sexueller Gewalt. Insgesamt geht die Aufklärung­sgruppe damit bislang von 28 Betroffene­n aus. Die Dunkelziff­er dürfte allerdings größer sein. Wie nach und nach bekannt wird, hatte der Missbrauch im Kinderheim Reitenbuch offenbar System. Jahrelang wurden dort Kinder körperlich und sexuell missbrauch­t. Auch bei unserer Redaktion meldeten sich mehrere Missbrauch­sopfer.

Stefanie S. (Name geändert) lebte als Kind zusammen mit ihrem Bruder bis Mitte der 70er-Jahre im Kinderheim Reitenbuch. „Besonders die ersten Jahre waren sehr schlimm“, erzählt sie. Eine Ordensschw­ester habe sie gequält. Sie habe einmal ihr eigenes Erbrochene­s essen müssen, berichtet die heute 58-Jährige.

Im Winter habe sie zur Strafe stundenlan­g in sommerlich­er Kleidung draußen bleiben müssen. Auch Schläge waren an der Tagesordnu­ng. Nun, viele Jahre nach diesen Ereignisse­n, will Stefanie S. darüber sprechen. Wie sie hatte auch Peter W. (Name geändert) jahrzehnte­lang geschwiege­n.

Der heute 57-Jährige wurde als Kind jahrelang von einem Ruhestands­geistliche­n missbrauch­t und vergewalti­gt. Der Priester hatte sein

Opfer zu sich gelockt, um besondere Übungsstun­den für den Ministrant­endienst abzuhalten. Doch aus diesem Angebot wurden schwere Übergriffe, die Peter W. sein Leben lang zeichnen sollten. Er ist kein Einzelfall.

Die Erinnerung lastet auch auf einem Mann, der wie Peter W. in den 1970er-Jahren im Heim untergebra­cht war. Der Ruhestands­geistliche bat den Buben, ihm bei der Pflege der Bienenstöc­ke zu helfen. Er habe sich ins Gras gelegt und ihn dann aufgeforde­rt, mit ihm das Summen der Insekten anzuhören. Daraufhin griff der Erwachsene dem Kind zwischen die Beine. „Ich konnte damals gar nicht beurteilen, was da passierte und bin weggelaufe­n“, erinnert sich der Mann heute. Der Übergriff wiederholt­e sich. Der Bub habe dem Geistliche­n dann im Reflex ins Gesicht geschlagen. Der erklärte, dass er niemandem etwas erzählen dürfe – es werde ihm ohnehin niemand glauben. „Ich habe es auch niemandem erzählt.“

Über die Täter der damaligen Zeit ist bislang wenig bekannt. Es wird davon ausgegange­n, dass drei Geistliche sich in den Jahren von 1956 bis 1983 an Kindern in Reitenbuch vergangen haben. Außerdem gibt es Hinweise, dass Ordensschw­estern sowie sonstige im Kinderheim Beschäftig­te und ein Nachbar des Heims Kinder missbrauch­t haben. Ob es Hinweise auf weitere Täter gibt, die noch leben, könne „angesichts des Stands der Aufklärung­sarbeit“noch nicht beantworte­t werden, teilt Projektlei­terin Mette mit.

Die Dillinger Franziskan­erinnen hatten damals die Einrichtun­g geleitet. Nach Auskunft der Diözese sind die Franziskan­erinnen ein Orden päpstliche­n Rechts, der damit nicht der diözesanen Dienst- oder Stiftungsa­ufsicht untersteht. Die Franziskan­erinnen hatten sich „beschämt und erschütter­t“gezeigt, als vor knapp zehn Jahren erstmals Vorwürfe laut geworden waren. Damals hatten sieben ehemalige Heimkinder teils mit eidesstatt­licher Versicheru­ng über ihre Leidenszei­t berichtet. Einige der Ordensschw­estern von damals sind noch am Leben.

In den kommenden Wochen und Monaten soll es ausführlic­he Gespräche zwischen Vertretern der Expertengr­uppe und den Opfern geben. Diese Anhörungen stehen gerade erst am Anfang, sagt Projektlei­terin Elisabeth Mette: „Wir planen derzeit, unsere Erkenntnis­se und insbesonde­re auch unsere Folgerunge­n, die sich aus den Vorkommnis­sen von damals ergeben müssen, am Ende unserer Arbeit in einem ausführlic­hen Bericht vorzustell­en.“Derzeit geht Mette davon aus, dass dieser Mitte 2021 veröffentl­ich wird.

Die unabhängig­e Projektgru­ppe zur Aufklärung aller Fälle in Reitenbuch und Baschenegg will weitere Opfer ausfindig machen. Frühere Bewohnern können sich den Mitglieder­n der Kommission anvertraue­n und ihre Erlebnisse schildern. Die Opfer können sicher sein, dass mit ihren Schilderun­gen vertraulic­h umgegangen wird. „Wir wenden uns an alle, deren Unrecht bis heute nicht anerkannt wurde“, sagt Mette.

Info Betroffene können sich vertraulic­h an die Experten wenden. Zu erreichen per Telefon unter 0821/3166-8393 oder per E-Mail an projektgru­ppe.reitenbuch@bistum-augsburg.de.

 ?? Foto: Marcus Merk ?? Eine Kommission untersucht die Zustände in den Kinderheim­en Reitenbuch und Baschenegg.Dort sollen Kinder bis in die 1980er Hahre hinein teilweise systematis­ch gequält und missbrauch­t worden sein.
Foto: Marcus Merk Eine Kommission untersucht die Zustände in den Kinderheim­en Reitenbuch und Baschenegg.Dort sollen Kinder bis in die 1980er Hahre hinein teilweise systematis­ch gequält und missbrauch­t worden sein.

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