In den Tod gerissen
Unglück Vor fünf Jahren flog Co-Pilot Andreas Lubitz eine Germanwings-Maschine absichtlich gegen einen Berg. Unter den Opfern waren Schüler und Lehrerinnen aus Westfalen. Wie das betroffene Gymnasium versucht, mit den Folgen der Katastrophe zu leben
Haltern am See Kalt weht der Wind an diesem Tag auf dem Halterner Kommunalfriedhof. Er trägt den Lärm der vorbeirauschenden Autos und Lastwagen von der nahen A43 hierher. Es regnet ohne Unterlass. Trister könnte die Stimmung auf dem menschenleeren Friedhof kaum sein. Dort erinnert ein schlichter grauer Grabstein daran, dass 18 junge Menschen am 24. März 2015 gestorben sind: 14 Schülerinnen und zwei Schüler der zehnten Klasse und zwei noch junge Lehrerinnen des Joseph-KönigGymnasiums Haltern. Sie fanden bei einem Schüleraustausch den Tod, als ein Airbus der Lufthansa-Tochter Germanwings auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf in einer Höhe von 1550 Metern im Bergmassiv Trois-Évêchés in den französischen Alpen zerschellte.
Weil der in Neuburg an der Donau geborene Co-Pilot Andreas Lubitz die Maschine in suizidaler Absicht gegen das Gebirge geflogen hatte. Und 149 Menschen mit in den Tod riss. Die Stadt Haltern war dadurch, dass gleich eine ganze Schülergruppe ausgelöscht wurde, besonders von dem Unglück betroffen. „Über der ganzen Stadt lag Trauer, lag Lähmung“, sagt Ulrich Wessel, Leiter des Joseph-KönigGymnasiums.
Er hält einen ganzen Packen an Briefen und Mails in der Hand. Die in einem eigens dafür geschaffenen Erinnerungsraum des Gymnasiums aufgehoben werden. Einer der drei Erinnerungsorte, die die Schule nach der Katastrophe geschaffen hat. „Es kamen Botschaften des
Mitgefühls aus der ganzen Welt, viele Schulen schrieben uns“, erinnert sich der 61-Jährige. Und noch immer ist die Tragödie präsent in Haltern. „Es besuchen ja auch noch betroffene Geschwisterkinder unsere Schule.“Aber der Lehrer für Latein, Erdkunde und katholische Religion sagt auch: „Es gab ja noch 131 weitere Opfer. Das darf man nicht vergessen. Weil bei uns jedoch eine Schülergruppe betroffen war, gaben wir wohl der Tragödie ein Gesicht.“
Eine Tragödie, die weltweit Entsetzen auslöste und Verhaltensregeln im internationalen Flugverkehr änderte. Eine Katastrophe, ausgelöst durch den jungen Mann, der den Airbus ganz offenbar im Wahn gegen die Berge flog. Das belegt der Abschlussbericht der französischen Behörden detailliert. Und die für den Fall in Deutschland zuständige Staatsanwaltschaft Düsseldorf folgte den Ergebnissen aus Frankreich im vollen Umfang. Wäre das schreckliche Unglück zu verhindern gewesen? Hätte der Arbeitgeber, hätten Kollegen merken müssen, dass Andreas Lubitz krank war? Haben die Aufsichtsbehörden versagt? Der Blick in den Bericht aus Frankreich besagt etwas anderes. Nur: Wer war dieser junge Mann?
Lubitz kommt am 18. Dezember 1987 im oberbayerischen Neuburg zur Welt, wo er als Kind auch aufwächst. Der Vater ist ein erfolgreicher Ingenieur, der beruflich viel unterwegs ist, die Mutter eine Organistin und Klavierlehrerin, wie der Stern berichtete. Als er sechs Jahre alt ist, zieht die Familie nach Montabaur im Westerwald. Dort besucht er das Gymnasium, wo er 2007 das Abitur ablegt. Die Fliegerei zieht ihn schon früh in den Bann. Mit 14 Jahren wird er Mitglied im Segelflugverein LSC Westerwald, zwei Jahre später macht er seinen Segelflugschein. Und so ist es für ihn folgerichtig, dass er bald nach dem Abitur im Januar 2008 am Auswahlverfahren bei der Lufthansa teilnimmt, um sich zum Piloten ausbilden zu lassen. Er wird genommen. Schon während seiner Ausbildung und auch in späteren Checks werden seine Prüfer bei ihm immer wieder ein überdurchschnittliches professionelles Niveau feststellen. Wäre da nicht die erste dunkle Episode. Lubitz fühlt sich am Ausbildungsstandort Bremen „leer und einsam“. Er vermisst seine Freundin sehr, kann nachts nicht schlafen. Lubitz rutscht mit 21 Jahren in seine erste depressive Phase, er hat Suizidgedanken, muss die Ausbildung unterbrechen, begibt sich auch stationär in die Behandlung eines Psychiaters.
Dieser diagnostiziert eine schwere depressive Episode, aber ohne psychotische Symptome. Also: ohne wahnhaftes Denken. Doch der junge Mann kämpft sich aus dem Dunkel wieder heraus und setzt seine Ausbildung erfolgreich fort. Der Makel der Depression bleibt aber an ihm kleben. Lubitz darf nur mit einer Sondergenehmigung arbeiten. Sobald er einen Rückfall haben würde, würde das nötige Tauglichkeitszeugnis verfallen. Die nächsten Jahre setzt Lubitz seine Ausbildung entschieden fort – und wird im Juni 2014 Co-Pilot.
Wie der Abschlussbericht belegt, stellt sich ab Dezember 2014, also gut vier Monate vor der Katastrophe, doch wieder ein Rückfall ein. Lubitz konsultiert mehrere Ärzte, die ihm ab Februar 2015 unter anderem das Antidepressivum Mirtazapin und Schlafmittel verschreiben. Es werden erstmals Wahnideen diagnostiziert. Lubitz ist der festen Überzeugung, zu erblinden, wofür mehrere aufgesuchte Augenärzte aber keinerlei organische Hinweise finden können. Am 10. März, 14 Tage vor der Tragödie, überweist ihn ein Psychiater gar in stationäre Behandlung. Denn er vermutet, dass sein Patient psychotisch ist. Also Wahnideen hat – eben zu erblinden. Doch Lubitz folgt der Einweisung, die auf freiwilliger Basis zu erfolgen hätte, nicht. Mehrere Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigungen werden ihm ausgestellt. Aber Lubitz sie bei seinem Arbeitgeber wohl nicht ein. Germanwings erfährt also nichts von dem, was in dem 27-jährigen Mann vorgeht. Auch vor Kollegen bei Flügen weiß der Co-Pilot seine Ängste zu verbergen. Das alles sehr wahrscheinlich, um nicht seinen Job zu verlieren. Auch die behandelnden Ärzte haben nicht Alarm geschlagen – wohl aus Gründen der ärztlichen Schweigepflicht. Mit entsetzlichen Folgen.
Wie die Staatsanwaltschaft Düsseldorf später bekannt gibt, hat sich Lubitz ab dem 16. März online unter anderem mit den Themen Selbsttötung, Cockpit-Türen und Sicherheitsvorkehrungen beschäftigt. Das ergab die Analyse des nicht gelöschten Verlaufes des Browsers auf Lubitz’ Tablet.
Der Tag der Katastrophe beginnt für Lubitz mit dem Hinflug um 6 Uhr morgens von Düsseldorf nach Barcelona. Bereits bei diesem Flug stellt Lubitz, als er sich für einige Minuten allein im Cockpit des Airbus befindet, für kurze Zeit den Aureicht topiloten von 37000 Fuß Flughöhe auf den für den Autopiloten tiefstmöglichen Wert von 100 Fuß. Die französischen Untersuchungsbehörden deuten dies später in ihrem Abschlussbericht als möglichen Test von Lubitz, die Maschine in den Sinkflug zu bringen.
Nach der Landung in Barcelona steigen 144 Passagiere zu – unter ihnen die Schülergruppe aus dem westfälischen Haltern am See. Die Teenager, 15 und 16 Jahre alt, nehmen im hinteren Bereich des Flugzeuges Platz. Gegen 10 Uhr Ortszeit bricht die Maschine mit leichter Verspätung auf zum Rückflug. Das Wetter ist bestens. Die Sicht ist exzellent, nur wenige Zirruswolken stehen am Himmel. Alles verläuft unspektakulär. Um 10.15 Uhr, so belegen es Analysen, macht Lubitz beim Steigflug sogar noch Brotzeit. Als der Kapitän um 10.30 Uhr und 27 Sekunden das Cockpit verlässt, vielleicht um auf die Toilette zu gehen, stellt Lubitz, der sich ganz allein in der Kabine befindet, um 10.30 Uhr und 53 Sekunden den Autopiloten von 38 000 auf 100 Fuß. Die Maschine geht sofort in einen Sinkflug. In den nächsten Minuten versucht der Kapitän, wieder ins Cockpit zu gelangen. Doch das ist quasi hermetisch versiegelt. Eine Konsequenz aus den Attentaten des 11. September, als islamistische Terroristen die Cockpits von mehreren Flugzeugen kaperten und die Maschinen unter anderem in die Zwillingstürme des World Trade Centers in Manhattan steuerten. Wie Aufnahmen belegen, schlägt der Kapitän gegen die Cockpit-Tür und fordert Einlass. Doch Lubitz reagiert nicht. Auch nicht auf Funksprüche der französischen Luftüberwachung. Bis sieben Sekunden vor dem Aufprall in den Bergen werden noch Atemgeräusche von Lubitz aufgezeichnet. Die Maschine ist zu diesem Zeitpunkt mit einer Geschwindigkeit von 345 Knoten unterwegs – und zerschellt um 10.41 Uhr und 6 Sekunden in den französischen Alpen.
Das Flugzeug zersplittert in unzählige Wrackteile in felsigem, unwegsamem Gelände auf einer Fläche von vier Hektar. Der Boden wird stark zerwühlt, Bäume werden entwurzelt. Der Abschlussbericht besagt, dass alle Insassen des Fluges durch die Wucht des Aufschlags sofort tot gewesen sein müssen. Der Bericht sagt weiter definitiv, dass Lubitz am Unfalltag mit großer Sicherheit wahnhaft und depressiv gewesen sei.
Die Krankheit von Andreas Lubitz ist die eine tragische Seite des Germanwings-Fluges 4U9525 am 24. März 2015. Die andere Seite wiegt unfassbar viel schwerer. Der junge Mann riss 149 weitere Menschen mit in den Tod. Ulrich Wessel erinnert sich an die schwersten Stunden seines Lebens. Wie er gegen 12.10 Uhr am Tag der Katastrophe bei einer Schulleiterbesprechung außer Haus plötzlich mehrere WhatsApp-Nachrichten von seinem Sekretariat auf seinem Smartphone findet – mit der Bitte, sich umgehend zu melden. Wie er nur wenig später bereits mit der damaligen NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft telefoniert, die ihm sagt, dass es keinerlei Überlebende gibt. Wie er den Eltern diese Botschaft überbringen muss. Wie die Schule dann tagelang von Fernsehteams belagert wird. Wie die Schule sogar Drohungen und Schmähbriefe erhält.
Wie verkraften die Eltern den schrecklichen Schicksalsschlag?
Der Schulleiter sagt: „Gaben Tragödie wohl ein Gesicht“
Die Eltern trauern ganz unterschiedlich
„Die Menschen trauern unterschiedlich“, sagt Wessel, der zu vielen Eltern noch Kontakt hat, teils mit ihnen jährlich zur Absturzstelle fliegt. „Manche Eltern treffen sich bis heute einmal im Monat. Manche wollen eher für sich sein.“Doch er ist sich sicher: „Wenn die Reihenfolge gestört ist, Kinder also eher gehen als die Eltern – da kommt man nie darüber hinweg“, sagt der hochgewachsene, nachdenkliche Schulleiter. Er selbst ist Vater von drei Kindern. Eltern der ums Leben gekommenen Kinder wollen nicht mehr über das Unglück sprechen. Höflich, aber bestimmt lehnen sie Interview-Anfragen ab.
Am Joseph-König-Gymnasium wird immer am Jahrestag der Opfer gedacht. Neben dem Erinnerungsraum gibt es an der Schule im Pausenraum einen Bereich mit den Fotos aller Verstorbenen. Und im Schulhof eine Tafel aus Stahl mit den Namen der Schülerinnen, Schüler und Lehrerinnen. Dazu wurden 18 japanische Kirschblüten gepflanzt, die als Zeichen des wiederkehrenden Lebens gelten. „In der Pause sitzen die Schüler auf den Bänken vor der Tafel aus Stahl, es geht dann lebendig zu, wie das Leben in einer Schule so ist. Das war uns wichtig, dass dieser Gedenkort sich nicht abseits befindet, sondern mitten unter uns“, sagt Wessel. Überdies hat ein Elternpaar in Haltern eine Stiftung mit dem Namen ihrer verstorbenen Tochter gegründet, die den Austausch von Schülern fördern soll. Und in Erinnerung an eine andere Verstorbene wurde ein Theater in Haltern gegründet. Es befindet sich mitten in der Stadt. Und natürlich ist da noch der kommunale Friedhof. An diesem so verregneten Tag.
Juristisch ist das Unglück übrigens noch nicht abgeschlossen. Zwar war vor Jahren schon Schmerzensgeld an Hinterbliebene geflossen. Aber es gibt im Mai in Essen einen weiteren Prozess von Angehörigen gegen die Lufthansa. Die Kläger werfen dem Unternehmen Versäumnisse vor. Ebenso ist eine Verhandlung in Frankfurt vorgesehen. Ein Termin dafür steht noch nicht fest.