Die Freude und den Tod vor Augen Wir und Corona
Die erzwungene Distanz verändert die Wahrnehmung – beruflich wie privat. Den Enten im Englischen Garten in München ist das alles ziemlich egal
So schön kann der Weg zur Arbeit sein. Es ist ein strahlend heller Frühlingsmorgen. Und es ist als wäre Sonntag. Statt die U-Bahn zu nehmen – die vor Corona oft überfüllt war, jetzt aber auch in Stoßzeiten nur noch spärlich besetzt ist –, packe ich meinen Rucksack und ziehe los: vorbei an der Technischen Universität und den Pinakotheken über die Ludwigstraße in den Englischen Garten und dann weiter bis zur Isar. Etwa 45 Minuten dauert der Fußweg von der Maxvorstadt ins Lehel, wo sich das Münchner Büro unserer Redaktion befindet.
Diese Zeit – 45 Minuten hin, 45 Minuten wieder heim – nehme ich mir normalerweise nicht. Plötzlich aber hab ich sie. Gefühlt 95 Prozent aller Termine finden nicht statt. Pressekonferenzen gibt es nur noch per Live-Stream. Politische Abendveranstaltungen sind abgesagt. Und auch der Landtag kommt nach dreiwöchiger Pause – erst Fasching, dann Kommunalwahlkampf – nur langsam wieder in die Gänge.
Den Enten im Englischen Garten ist das ziemlich egal. Für einen politischen Korrespondenten aber ist das ein ernstes Problem: Ich treffe keine Leute mehr, die etwas wissen – oder genauer: die etwas wissen, bevor alle es wissen. So viel wir auch telefonieren, so digital vernetzt wir auch sind – mir fehlt das persönliche Gespräch, der unmittelbare Eindruck und die beiläufigen Gesten, die oft mehr sagen als Worte. Korrespondenten sind ein bisschen wie Trüffelschweine und ein bisschen wie Eichhörnchen. Sie wühlen und sie sammeln. Im besten Fall ergeben ihre Erträge einen authentischen Ausschnitt der Wirklichkeit, der dann korrekt dargestellt werden kann. Wenn ihnen der direkte Kontakt mit politischen Akteuren entzogen wird, dann wissen sie zwar immer noch, was passiert (und hoffentlich auch, warum). Die tieferen Motive, die Erwartungen, Hoffnungen und Ängste hinter den Entscheidungen aber bleiben ihnen verborgen.
Der journalistische Ertrag eines Spaziergangs durch den Englischen Garten hält sich in Grenzen. Ich kann von dort nur berichten, dass sich die Surfer an der Eisbach-Welle ihren Spaß bisher nicht haben verderben lassen. Wer eiskaltes Wasser nicht scheut, den schreckt weder das Virus, noch beeindrucken ihn die Appelle, zu Hause zu bleiben.
Mich persönlich schreckt das Virus auch nicht. Ich bin gesund. Ich werd’s überleben. Trotzdem meide ich die U-Bahn und gehe zu Fuß. Ich denke auf dem Weg an meine Eltern. Ich besuche sie zurzeit nicht. Mein Vater ist 86, hat ein schwaches Herz und eine kranke Lunge. Ich weiß: Wenn er sich ansteckt, hat er kaum Chancen zu überleben. Ich weiß aber auch: Er hätte seine helle Freude daran, mit mir den Surfern zuzuschauen oder im Biergarten eine Maß zu trinken.
An dieser Stelle berichten täglich Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion von ihrem Arbeitsalltag in Zeiten von Corona.
Uli Bachmeier, 60, ist unser Landtagskorrespondent in München.