Die Gegen-Präsidentin
Trump verliert im direkten Vergleich
Schon die Überschriften lassen Sehnsucht verspüren. „Eine vernünftige Politik liegt in greifbarer Nähe“, titelt die Meinungsseite der New York Times zu einem Foto mit der deutschen Kanzlerin. „Das Geheimnis des deutschen Covid19-Erfolgs“lüftet das Polit-Magazin The Atlantic gleich in der Schlagzeile: „Angela Merkel ist eine Wissenschaftlerin.“
Wenn amerikanische Journalisten in diesen Tagen über Deutschland berichten, haben sie stets die Zustände in ihrer Heimat im Kopf: den Beinahe-Kollaps des Gesundheitswesens in New York, die Verwüstungen am Arbeitsmarkt und die surrealen Ego-Shows ihres Präsidenten. Voller Anerkennung berichten New York Times und Washington Post entsprechend, wie stabil das deutsche Gesundheitswesen ist, wie früh die Tests begannen und wie gut das Kurzarbeitergeld soziale Verwerfungen verhindert.
Pannen und Unzulänglichkeiten der deutschen Bürokratie schrumpfen mit 7000 Kilometern Distanz zu Fußnoten. Und die nüchtern-unprätentiöse Kanzlerin mutiert für das linksliberale Amerika endgültig zur Lichtgestalt. Als New York Times-Kolumnist Bret Stephens sie neulich als Vizepräsidentin an der Seite von Joe Biden vorschlug, war das noch mit einem Augenzwinkern versehen. Atlantic-Autorin Saskia Miller hingegen lobt unumwunden die Offenheit, die Rationalität und die Empathie von Angela Merkel. Eine Mischung aus „ruhiger Bestärkung und klarsichtigem Realismus“macht auch New York Times-Korrespondentin Katrin Bennhold als Stärke der Kanzlerin aus. „Führung durch Ehrlichkeit“, kommentiert der US-amerikanische Politikwissenschaftler Ian Bremmer die Regierungserklärung vom Donnerstag.
Genau das ist es wohl, was viele Amerikaner derzeit am meisten vermissen. Nach einer aktuellen Umfrage vertrauen in der Corona-Krise nur noch 23 Prozent ihrem Präsidenten. Karl Doemens