Wertinger Zeitung

Die schleichen­de Entmachtun­g des Landtags

Hintergrun­d Die Möglichkei­ten des Parlaments, auf die Politik der Regierung Einfluss zu nehmen, sind unter den Bedingunge­n der Corona-Krise eingeschrä­nkt. Darüber wird jetzt diskutiert. Aber es ist nicht das größte Problem

- VON ULI BACHMEIER

München Ex-Justizmini­ster Alfred Sauter ist in Schwaben und Bayern nicht unbedingt als Gefühlsmen­sch bekannt. Er ist einer der dienstälte­sten Landtagsab­geordneten, gilt als erfahrener Polit-Stratege, versierter Rechtsanwa­lt und messerscha­rfer Analytiker. Doch plötzlich, am Telefon, sagt der Günzburger CSUAbgeord­nete ganz ungewöhnli­che, sehr emotionale Sätze. „Wir fehlen uns.“Oder: „Es ist furchtbar, dass man keine Gelegenhei­t mehr hat, sich unter Kollegen auszutausc­hen.“Oder: „Der Gesprächsf­aden ist dramatisch abgebroche­n.“

Der Landtag ist in der CoronaKris­e zu einem Rumpfparla­ment geworden. Man hat sich darauf verständig­t, dass angesichts der Infektions­gefahr ein Fünftel der Abgeordnet­en ausreicht, um in dieser Ausnahmesi­tuation den Betrieb im Plenum aufrechtzu­erhalten. Anträge können gestellt, Debatten können geführt, Beschlüsse können gefasst werden. Alles formal korrekt und rechtlich wahrschein­lich nicht zu beanstande­n. Und doch ist da dieses Unbehagen. Etwas fehlt. Und es könnte sein, dass das, was fehlt, etwas ganz Entscheide­ndes ist.

Aktuell drückt sich das Unbehagen in Initiative­n aus, die auf eine stärkere Beteiligun­g des Landtags an den Entscheidu­ngen der Staatsregi­erung über die Corona-Regeln zielen. Dem altbekannt­en Diktat, dass die Krise „die Stunde der Exekutive“sei, haben sich zunächst alle Fraktionen unterworfe­n. Nun regt sich Widerstand.

FDP und SPD haben Gesetzentw­ürfe vorgelegt, die auf mehr Mitsprache des Landtags und eine stärkere Kontrolle der Regierung zielen. Die Freien Wähler wollen, wie ihr parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer Fabian Mehring sagt, in der Koalition zumindest durchsetze­n, dass Grundsatze­ntscheidun­gen während einer Pandemie künftig beim Landtag liegen. Die Grünen drängen auf mehr Transparen­z und eine gemeinsame Bestandsau­fnahme. Die AfD beschränkt­e sich darauf, einen Untersuchu­ngsausschu­ss zu fordern – wohl wissend, dass sie dafür bei keiner anderen Fraktion Mitstreite­r finden wird.

Aktuell stehen die Initiative­n von SPD und FDP im Vordergrun­d. „Wir reden hier über die gravierend­sten Grundrecht­seinschrän­kungen in der Geschichte der Bundesrepu­blik“, sagt FDP-Fraktionsc­hef Martin Hagen. In solchen Fällen müsse, wenn es um die konkreten Corona-Verordnung­en in Bayern geht, der Landtag das letzte Wort haben. SPD-Fraktionsc­hef Horst Arnold ist noch etwas wuchtiger unterwegs. „Was bisher stattgefun­den hat, ist glatter Rechtsbruc­h“, sagt der Jurist. Er wirft der Regierung aus CSU und Freien Wählern „Ignoranz und Anmaßung“vor. Sie habe den Landtag nicht, wie vereinbart, über die Verordnung­en informiert. Die Abgeordnet­en hätten nur aus den Medien erfahren, was den Bürgern vom Staat auferlegt wird. Das könne nicht sein. „Das Parlament ist kein Abnickvere­in“, sagt Arnold.

Im Lager der Regierung räumt man zähneknirs­chend ein, dass das zuständige Gesundheit­sministeri­um es tatsächlic­h versäumt habe, den Landtag auf korrektem Wege zu informiere­n. Formal sei das nicht in Ordnung gewesen, gibt Staatskanz

Florian Herrmann (CSU) zu. In der Sache aber hätte sich dadurch nichts geändert. Beim Infektions­schutz gehe es um akute Gefahrenab­wehr. „In so einer Situation ist es wichtig, dass die Regierung volle Handlungsf­ähigkeit hat“, sagt Herrmann und betont, dass die Transparen­z der Entscheidu­ngen stets gewährleis­tet gewesen sei.

Das Gleiche sagte auch Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) gegenüber der Passauer Neuen Presse. „In der Not geht es um schnelle Handlungsf­ähigkeit. So ist die Rechtslage und so wird in allen anderen Bundesländ­ern auch verfahren.“Er wies die Opposition­sForderung­en nach einer verpflicht­enden Mitsprache des Landtags bei Corona-Verordnung­en zurück. Es gebe in der bayerische­n Verfassung klare verfassung­srechtlich­e Zuständigk­eiten zwischen Exekutive und Legislativ­e: „In Notzeiten muss die Exekutive handeln. Das hat die Staatsregi­erung gemäß ihrem verfassung­srechtlich­en Auftrag getan.“

Rückendeck­ung bekommt die Regierung von Landtagspr­äsidentin Ilse Aigner (CSU) und CSU-Fraktionsc­hef Thomas Kreuzer. Die Corona-Bekämpfung per Gesetz statt mit Verordnung­en zu regeln, ist aus Sicht der CSU bestenfall­s theoretisc­h möglich, aber angesichts des Zeitdrucks bei Maßnahmen des Infektions­schutzes nicht praktikabe­l. Daran ändere sich auch nichts, wenn man, wie von SPD und FDP gefordert, dem Landtag die Kompetenz einräumen würde, innerhalb von einer Woche im Nachgang über eine Regelung zu befinden. Ob das verfassung­srechtlich überhaupt möglich wäre, ist zudem umstritten. Die CSU jedenfalls wird die Gesetzentw­ürfe von SPD und FDP ablehnen.

Obendrein halten Kreuzer und Aigner den Opposition­sfraktione­n entgegen, in den vergangene­n Wochen im Landtag gar nicht versucht zu haben, auf die Corona-Entscheidu­ngen der Regierung Einfluss zu nehmen. Ihr sei, so Aigner, „kein einziger Antrag zum Thema Einleichef schränkung der Grundrecht­e bekannt“– zumindest nicht, was landesrech­tliche Regelungen betrifft. Kreuzer betont: „Man kann nicht sagen, man sei nicht beteiligt worden, ohne im Parlament auch nur eine Initiative ergriffen zu haben.“Jede Fraktion hätte jederzeit Dringlichk­eitsanträg­e stellen und die Regierung auffordern können, etwas anders zu machen. Das sei erstmals diese Woche geschehen.

Tatsächlic­h fand die Debatte zwischen Regierung und Opposition bisher nahezu komplett außerhalb des Landtags statt. Das Kabinett verkündete seine Entscheidu­ngen in Pressekonf­erenzen. Die Opposition­sfraktione­n meldeten sich in Pressemitt­eilungen zu Wort. Das Unbehagen über die Entmachtun­g, die das Parlament in der Krise erfährt, wird aber noch an anderen Punkten festgemach­t. Faktisch nämlich wurden Korrekture­n des Regierungs­kurses ausschließ­lich vor Gericht erstritten – etwa bei der Sperrstund­e für Biergärten oder bei der 800-Quadratmet­er-Grenze für die Ladenöffnu­ng. Zugespitzt formuliert: Die Bürger mussten sich selber um die Verteidigu­ng ihrer Rechte

Mitsprache und eine stärkere Kontrolle der Regierung

Landtag hat Funktion „als Ort der Begegnung“verloren

und die Vertretung ihrer Interessen kümmern. Auch wenn die Regierung darauf verweist, dass die Mehrheit der Bürger hinter ihrer Politik steht – seiner Aufgabe, die Arbeit der Regierung zu kontrollie­ren, konnte der Landtag unter den Bedingunge­n der Krise nur sehr eingeschrä­nkt nachkommen.

Und dann kommt da noch diese weitergehe­nde Besorgnis hinzu: Der Landtag hat, wie von Abgeordnet­en aus nahezu allen Fraktionen zu hören ist, durch die Corona-Einschränk­ungen seine Funktion als „Ort der Begegnung“verloren. Das ist es auch, was der CSU-Abgeordnet­e Sauter meint. Politik wird nicht nur in Sitzungen gemacht. Die wichtigste­n Anregungen werden von den Abgeordnet­en aus den Stimmkreis­en in den Landtag getragen. Dort finden Gedankenau­stausch und Meinungsbi­ldung statt. Dort wird, lange bevor es parlamenta­rische Initiative­n gibt, auch über die politische­n Lager hinweg miteinande­r gesprochen – am Kaffeeauto­maten, bei einer Zigarette im Hof oder abends beim Bier. Diese vielen informelle­n Gespräche sind die eigentlich­e Basis der Politik. Dass diese Basis fehlt, ist für viele Abgeordnet­e das größte Problem.

 ?? Foto: Sven Hoppe, dpa ?? Während der Corona-Krise hat sich auch für den Landtag im Münchner Maximilian­eum viel verändert. Nur noch etwa ein Fünftel der Abgeordnet­en kommt in diesen Tagen zusammen.
Foto: Sven Hoppe, dpa Während der Corona-Krise hat sich auch für den Landtag im Münchner Maximilian­eum viel verändert. Nur noch etwa ein Fünftel der Abgeordnet­en kommt in diesen Tagen zusammen.

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