„Da hilft nur noch Handhalten“
Interview Corona hat die Lage in Krankenhäusern verschärft. Wie sich die Arbeit einer Seelsorgerin am Uniklinikum Augsburg verändert hat und wie sie versucht, für Patienten, Angehörige, Pflegekräfte und Ärzte da zu sein
Frau Weingärtler, Sie sind evangelische Pfarrerin und seit 2015 Klinikseelsorgerin am Universitätsklinikum Augsburg. Wie hat sich Ihre Arbeit durch Corona verändert?
Claudia Weingärtler: Vor allem im ersten Lockdown, also im März, April vergangenen Jahres habe ich so viele Besuche am Krankenbett gemacht wie noch nie. Ich hatte dafür auch mehr Zeit, weil Gottesdienste oder andere Termine weggefallen sind. Und es kamen im ersten Lockdown so viele Anrufe von Angehörigen wie noch nie. Da herrschte eine große Verunsicherung: Warum können wir die kranke Mutter, den schwer kranken Vater nicht mehr besuchen? Was können wir tun? Diese Anrufe kommen nun seltener.
Aber die Lage ist doch ernster denn je? Weingärtler: Ja, natürlich. Ich kann da nur versuchen, eine Erklärung zu finden. Wahrscheinlich haben wir alle uns mittlerweile an die Ausnahme-Situation gewöhnt. Bei manchen ist es auch so eine Art Resignation oder Schicksalsergebenheit. Es ist aber auch nicht so, dass Angehörige uns jetzt nicht mehr brauchen, ganz im Gegenteil. Nur dieser große Ansturm vom Frühjahr, der ist weg.
Mit welchen Sorgen kommen denn Angehörige von Corona-Kranken? Weingärtler: Jetzt kommen meiner Einschätzung nach vermehrt Angehörige, die sich richtig große Sorgen machen. Ich denke zum Beispiel an eine Tochter, deren Vater zwar nicht an Corona erkrankt war, aber an Krebs. Man darf ja nicht vergessen, man spricht immer von den CoronaPatienten. Hier am Uniklinikum liegen aber auch viele Menschen mit ganz anderen lebensbedrohlichen Krankheiten.
Wie konnten Sie der Tochter helfen? Weingärtler: Sie rief mich an, weil sie ihren Vater telefonisch nicht mehr erreicht hat. Die Schwester auf der Station hat zu ihr gesagt, er sei somnolent, also sehr schläfrig. Die Tochter konnte ihn nicht besuchen, sie bat mich an ihrer Stelle nach ihm zu schauen und das habe ich natürlich getan. Ich bin mit dem Mobiltelefon zu ihm, sein Gesundheitszustand war wirklich sehr kritisch, ich war mir nicht sicher, ob er verstanden hat, wer ich bin, doch als ich seine Tochter anrief und das Telefon laut stellte, lief ihm eine Träne über die Wange. Noch einmal hörte er die Stimme seiner Tochter. Ein paar Tage danach ist er gestorben.
Ein Glück, dass Sie zu ihm sind.
Weingärtler: In solchen Situationen, in denen Menschen an einem Übergang sind, da kann man nicht mehr telefonieren oder eine WhatsappNachricht schreiben. Da hilft nur noch da zu sein, Handhalten.
Viele Menschen fürchten, dass Patienten nun seelenallein sterben. Sie haben sicher mehr Sterbebegleitungen oder? Weingärtler: Ja, das habe ich. Allerdings merke ich immer wieder, wie wichtig vertraute Menschen gerade beim Sterbeprozess sind. Und das tut mir in der momentanen Lage so weh. Ich habe Ihnen ja von dem Mann erzählt, der auf die Stimme seiner Tochter ganz anders reagiert hat als auf mich. Und auf der Palliativstation hier am Uniklinikum, wo mit Sterben und Tod nochmals bewusster umgegangen wird, wird beispielsweise versucht, dass enge Angehörige kommen können – immer nur eine Person für begrenzte Zeit. Diese Angehörigen müssen natürlich strengste Schutzmaßnahmen beachten. In Ausnahmefällen ist sogar eine Begleitperson erlaubt, die darf aber das Klinikum dann auch nicht mehr verlassen. Aber sie dürfen da sein.
Wie ist das bei Corona-Patienten, kommen sie auf Palliativstationen? Weingärtler: Wir haben hier am Uniklinikum mehrere Covid-Stationen.
von einer weiß ich, dass sich Palliativpflegekräfte freiwillig gemeldet haben, um dort zu arbeiten. Dort habe ich auch sehr positive Erfahrungen gemacht, etwa, dass man sehr frühzeitig gerufen wird. Und ich darf jetzt auch etwas länger am Krankenbett bleiben als beim ersten Lockdown, als ich nur 15 Minuten im Patientenzimmer sein durfte. Ich habe den Eindruck, dass insgesamt mehr auf die Kontaktbedürfnisse der Kranken geachtet wird. Und doch bin ich natürlich insgesamt nicht lange da und dann ist der Patient wieder allein.
Sie kommen ja zu Corona-Patienten in Schutzmontur, erkennt man Sie? Weingärtler: Nein, nicht immer, viele können mich zunächst nicht von den Pflegekräften oder Ärzten unterscheiden. Das darf man natürlich nicht vergessen, wenn man fordert, dass Angehörige zu sterbenden Covid-Patienten kommen dürfen: Diese Angehörigen müssten die ganze Zeit in voller Schutzmontur gekleidet sein und sind natürlich je länger sie in dem Zimmer sind, umso mehr der Gefahr einer Ansteckung ausgesetzt. Einige Pflegende haben sich bei ihrer Arbeit trotz aller Vorsichtsmaßnahmen angesteckt, zum Teil mit sehr schwerem Verlauf. Ein Angehöriger oder eine Angehörige darf dennoch für begrenzte Zeit – auch gemeinsam mit mir als Seelsorgerin – zur Verabschiedung kommen. Was ich allerdings speziell bei CoronaPatienten erlebe, ist, wie schnell ihr Gesundheitszustand kippen kann. Als ich die letzten Male gerufen wurde, waren die Patienten schon in einem Zustand, in dem ich mir nicht mehr sicher war, ob sie wahrnehmen, wer ich bin. Ich habe ein Kreuz in Form eines Handschmeichlers dabei. Die meisten umgreifen es intuitiv. Neulich hat eine Frau meine Hand dabei gegriffen – ich habe ihre Hand natürlich eine Zeit lang gehalten.
Das heißt, dass viele Corona-Patienten tatsächlich alleine sterben? Weingärtler: Ja, viele Corona-Patienten sterben allein. Das ist leider so, obwohl sich die Pflegekräfte und Ärzte hier am Uniklinikum sehr bemühen. Als ich neulich von einem Pfleger zu einer sterbenden Frau gerufen wurde, die bei meinem Eintreffen bereits verstorben war, habe ich gemeinsam mit ihm noch ein Vaterunser gesprochen und sie gesegnet. Wie tückisch diese Erkrankung ist, habe ich auch bei einem Ehepaar erlebt: Beide hatten Corona. Beide waren auf dem Weg der Besserung. Die Ehefrau konnte entlassen werden in der Hoffnung, dass ihr Mann auch bald nach Hause darf. Doch dann hat sich sein GesundheitszuUnd stand schlagartig so verschlechtert, dass er gestorben ist. Für die Ehefrau und die Tochter war das ein Schock. Unfassbar. Sie hatten damit nicht gerechnet und es war niemand mehr bei ihm.
Wie helfen Sie denn in so einer Lage? Weingärtler: Ich höre zu. Das klingt zunächst nach nicht viel. Und doch tut es oft einfach schon gut, wenn man jemanden zum Reden hat. Das erlebe ich immer wieder. Auch auf anderen Stationen. Vor allem bei Schwerstkranken, bei Menschen, die wissen, dass man sie nicht mehr heilen kann.
Was erzählen Sie Ihnen? Weingärtler: Alles. Manchmal ihr ganzes Leben. Auch ihr Scheitern. Ihren Kummer. Ihre Ängste. Alles, was sie oft lange verbergen wollten oder mussten. Die Patienten wissen und das ist ihnen ganz wichtig, dass ich zur Verschwiegenheit verpflichtet bin. Daher können sie mir und meinen Kollegen und Kolleginnen – wir sind ja zwölf Personen im ökumenischen Team der Seelsorge für das Uniklinikum Augsburg – auch wirklich alles anvertrauen. Viele wollen vor allem ihre Angehörigen nicht belasten. Die machen sich doch eh schon solch große Sorgen. Da erscheint es vielen besser, mit uns über ihre Ängste zu sprechen.
Sie sind auch für die Pflegekräfte und die Ärzte da, kommen mehr zu Ihnen? Weingärtler: Nicht unbedingt. Oft sind es eher Gespräche zwischen Tür und Angel. Ein Arzt hat kürzlich zu mir gesagt: Das nächste Mal, wenn wir sie rufen, kommen sie nicht wegen des Patienten, sondern wegen mir, dann brauch ich sie. Daran merkt man, wie belastend die Arbeit ist, wie erschöpft viele Pflegekräfte, aber eben auch Ärzte sind. Ich spüre das aus ganz wenigen Worten. Und aus meiner Erfahrung als Supervisorin weiß ich, dass in höchst stressigen Situationen kaum noch jemand reden will. Man versucht nur noch durchzuhalten und alle Kräfte zu bündeln. Erst wenn wieder mal Luft geholt werden kann, kommt das Bedürfnis, sich die Belastungen, den Schmerz von der Seele zu reden. Ich denke, da wird von Pflegekräften und Ärzten noch Einiges kommen.
Claudia Weingärtler, 54, ist evangelische Pfarre rin, Pastoralpsychologin und Supervisorin. Sie lebt in Augsburg.