Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (35)
WSilvesternacht. Stark alkoholisiert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben der erlösen müssen. Eine Schauergeschichte mit sozialem Appell der ersten Literaturnobelpreisträgerin.
ährend David Holm weiter schwankte, wurde er von einer neuen Angst ergriffen. Wie sollte er es anstellen, daß seine Frau, die sich vor ihm fürchtete, ihm glaubte, wenn nicht einmal Schwester Maria.
Endlich standen sie vor dem Hoftor, wo er wohnte, und die Rettungsschwester half ihm beim Öffnen.
„Nun können Sie vollends allein gehen, Holm,“sagte sie, indem sie sich zum Gehen wendete.
„Ach, es wäre sehr gut von Ihnen, Schwester Maria, wenn Sie meine Frau rufen würden, damit sie herunterkommt und mir hinauf hilft.“
Die Schwester zuckte die Schultern. „Wissen Sie, Holm, in einer anderen Nacht würde ich Sie vielleicht hinaufgeleitet haben, aber heute habe ich keine Lust dazu. Nun muß es genug sein.“
Ihre Stimme erstarb in einem Schluchzen, und sie eilte davon.
Als er sich die steile Treppe hinaufmühte,
war ihm zumute, als sei es nun jedenfalls zu spät; und außerdem, wie könnte er seine Frau dazu bringen, ihm zu glauben?
Während er vor Schwäche und Mutlosigkeit fast auf der Treppe umsank, fühlte er aufs neue die leichte liebkosende Berührung an der Stirne.
,Sie ist mir nahe,‘ dachte er. ,Sie wacht über mich!‘
Und er fand die Kraft, sich bis zur obersten Stufe hinaufzuschleppen.
Als er die Tür öffnete, stand seine Frau dicht davor, wie wenn sie herbeigeeilt wäre, um sie zuzuriegeln, damit er nicht hereinkommen könnte. Als sie sah, daß sie es nicht mehr hatte verhindern können, zog sie sich nach dem Herd zurück und blieb, diesem den Rücken zugewendet, davor stehen, ganz als hätte sie dort etwas, was sie verbergen und wegtun möchte. Ihr Gesicht hatte noch immer den starren Ausdruck wie vorher, und David Holm sagte sich rasch: „Sie hat es nicht getan. Ich bin noch zu rechter Zeit gekommen.“
Mit einem raschen Blick auf die Kinder versicherte er sich, daß es tatsächlich so war.
„Sie schlafen noch. Sie hat es nicht getan. Ich bin noch zu rechter Zeit gekommen,“sagte er noch einmal zu sich selbst.
Er streckte die Hand nach der Seite aus, wo Georg vor seinem Fortgehen gestanden hatte, und da vermeinte er zu fühlen, daß eine andere Hand die seinige faßte und drückte.
„Ich danke dir,“sagte er leise, aber seine Stimme zitterte, und ein Nebel legte sich ihm plötzlich vor die Augen.
Er schwankte ins Zimmer hinein und sank auf einen Stuhl. Er sah, daß seine Frau alle seine Bewegungen beobachtete, wie sie es getan haben würde, wenn ein wildes Tier in die Stube hereingekommen wäre.
,Sie meint, ich sei betrunken, auch sie meint es,‘ dachte er.
Aufs neue überfiel ihn große Mutlosigkeit, weil er so grenzenlos müde war und nicht ausruhen durfte. Im nächsten Zimmer stand allerdings ein Bett, und er sehnte sich unaussprechlich, sich dort ausstrecken zu dürfen und sich nicht noch länger aufrecht halten zu müssen; aber er wagte es nicht, dort hineinzugehen. Sobald er den Rücken kehrte, würde seine Frau das tun, was sie im Sinn hatte; er mußte also hier bleiben und sie bewachen.
„Schwester Edith ist tot, und ich bin noch bei ihr gewesen,“versuchte er zu sagen. „Ich hab’ ihr versprochen, gut gegen dich und die Kinder zu sein. Morgen darfst du sie ins Asyl schicken.“
„Warum lügst du?“fragte seine Frau. „Gustavsson ist hier gewesen und hat Hauptmännin Andersson mitgeteilt, daß Schwester Edith gestorben ist, und sie sagte, du seiest nicht mehr gekommen.“
David sank auf dem Stuhl zusammen, und zu seiner eigenen großen Verwunderung fing er an zu weinen. Die Erkenntnis der Nutzlosigkeit seiner Rückkehr in diese Welt der langsamen Gedanken und der kurzsichtigen Augen drückte ihn nieder. Die lähmende Überzeugung, daß er nie über die Mauern hinauskommen könnte, die seine eigenen Taten um ihn aufgerichtet hatten, die Sehnsucht, die grenzenlose Sehnsucht, nun sogleich mit der Seele vereint zu werden, die ihn umschwebte und doch unerreichbar für ihn war, das, das brachte seine Tränen zum Fließen.
Während er so noch heftig weinte und schluchzte, hörte er die Stimme seiner Frau.
„Er weint?“sagte sie im Tone allerhöchster Verwunderung vor sich hin. Und nach einer Weile sagte sie noch einmal: „Er weint!“
Sie trat vom Herd weg und kam mit einer gewissen Angst näher zu ihm heran.
„Weinst du, David?“fragte sie. Er hob das tränenüberströmte Gesicht zu ihr auf.
„Ich will mich bessern,“sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, so daß man fast hätte meinen können, er sei zornig. „Ich will ein guter Mensch werden, aber niemand will es mir glauben. Soll ich da nicht weinen?“
„Ach, David, das ist sehr schwer zu glauben,“versetzt sie, noch unschlüssig. „Aber jetzt, wo du weinst, glaube ich dir. Jetzt glaube ich dir.“
Und wie um ihm einen Beweis zu geben, daß sie ihm glaube, setzte sie sich auf den Boden und lehnte ihren Kopf an seine Knie.
So saß sie einen Augenblick ganz still da; aber bald begann auch sie zu schluchzen.
Er fuhr zusammen. „Weinst du jetzt auch?“fragte er.
„Ich kann nicht anders. Ich kann nicht glücklich werden, ehe ich das ganze Leid, das mich erfüllt, weggeweint habe.“
In diesem Augenblick fühlte David
Holm jene Berührung noch einmal wie einen leichten frischen Hauch, der über seine Stirne strich. Seine Tränen versiegten und verwandelten sich in ein nach innen gerichtetes, geheimnisvolles Lächeln.
Er hatte das erste vollendet, das ihm durch die Ereignisse der Nacht vorgeschrieben worden war. Nun mußte er noch dem Jungen helfen, den sein Bruder so lieb gehabt hatte. Nun mußte er noch solchen Menschen, wie Schwester Maria, beweisen, daß Schwester Edith nicht unrecht gehabt hatte, als sie ihm ihre Liebe geschenkt. Nun mußte er noch sein eigenes Heim aus dem Verfall wieder heraufbringen. Nun mußte er noch den Menschen den Gruß des Fuhrmanns überbringen. Dann, wenn dies alles getan war, dann, dann durfte er zu der Geliebten, der Ersehnten gehen! Er saß da und fühlte sich unaussprechlich alt. Er war geduldig und ergeben geworden, so wie die Alten es zu sein pflegen. Er wagte es nicht mehr, etwas zu hoffen oder zu wünschen, er faltete nur seine Hände und flüsterte den Neujahrswunsch des Fuhrmanns:
„Gott, großer Gott, laß meine Seele zur Reife kommen, ehe sie geerntet wird.“