Wo ist das Vertrauen hin?
Debatte Die Krisenmanager geben ein verheerendes Bild ab. Noch mehr als handwerkliche Fehler setzt vielen Menschen zu, dass die Corona-Politik keiner Logik mehr folgt. Mit halbherzigen Maßnahmen wollen es die Regierenden allen recht machen – mit dramatisc
Es soll wohl ein Witz sein. Einer von denen, die man sich unter Kollegen hin- und herschreibt, wenn die Videokonferenz mal wieder zu lange dauert und der Wichtigtuer aus dem zweiten Stock zum dritten Mal eine Diskussion anzettelt, zu der längst alles gesagt ist. Doch Bodo Ramelow ist eine vertrauliche Nachricht nicht genug für den Klamauk. Er sucht die große Bühne. Der denkwürdige Corona-Gipfel läuft noch, als er seine Sicht der Dinge in die Nacht hinaus twittert. ÄÄÄÄÄ tippt er – ganze 279-mal. Ein „Ä“hätte er genau genommen noch untergebracht, aber die digitale Botschaft kommt auch so an. Und zwar in zweifacher Hinsicht. Ganz schön nervig diese ewigen Verhandlungen, keine Frage. Aber sitzt da wirklich ein Ministerpräsident an einem Abend, an dem es um so viel geht, vor seinem Smartphone und überlegt, wie er zur Belustigung beitragen kann? Kein Wunder, dass immer mehr Menschen in diesem Land fragen: Ist das euer Ernst? Wie sollen wir dieser Politik, dieser Regierung noch vertrauen?
Nach einem Jahr Pandemie geben die Krisenmanager der Republik ein besorgniserregendes Bild ab. Das liegt an handwerklichen Fehlern, an lähmender Bürokratie, an Mutlosigkeit und fehlender Kreativität, auch an Fesseln, die der Föderalismus ihnen auferlegt. Aber es liegt vor allem an der offenkundigen Planlosigkeit. Daran, dass die Regierenden scheinbar irgendwann aufgehört haben, sich an Fakten zu orientieren. Wenn Politik derart irrational wird, wenn sie keiner Logik mehr zu folgen scheint, dann kostet das weit mehr Vertrauen als eine vermasselte Bestellung von Schnelltests oder Luftfiltern.
Wer den Moment sucht, an dem dieses Land, das zunächst ja tatsächlich besser durch die Krise kam als andere, falsch abgebogen ist, muss die Zeit etwa ein halbes Jahr zurückdrehen. Politiker sollten das tun, was sie für richtig halten und dafür um Zustimmung werben. Doch im Herbst beginnen die Ministerpräsidenten das zu tun, von dem sie sich die meiste Zustimmung erhoffen. Oder den geringsten Ärger. Der Begriff „Lockdown Light“wird geboren. Light, das klingt nach leicht verdaulich, nach weniger schlimm. In Wahrheit war dieses halbherzige Bremsmanöver vor allem eines: weniger wirksam. Man will den Leuten nicht die Weihnachtszeit versauen – und versaut ihnen damit womöglich ein ganzes Jahr. Es ist der Beginn einer Sowohl-als-auch-Politik, die immer öfter Emotionen statt wissenschaftlichen Erkenntnissen folgt. Einer Politik, die in dieser irren März-Woche mit dem Debakel um die „Osterruhe“einen neuen Tiefpunkt erreicht.
Seit Wochen warnen Experten, dass die Corona-Mutationen diese Pandemie grundlegend verändert haben. Der Präsident der Notfallmediziner betont immer und immer wieder, dass die Menschen, die auf den Intensivstationen behandelt werden, selbst nach überstandener Erkrankung oft nicht mehr die gleichen sind. Lungengewebe ist zerstört, viele plagt chronische Müdigkeit – Folgen, die das Virus anrichten kann. Als die Bundeskanzlerin im September vor 20 000 Neuinfektionen täglich warnt, ist die Aufregung riesig.
Und heute? Am Freitag meldet das Robert-Koch-Institut 22657 neue Fälle, doch viele Politiker scheinen solche Daten allenfalls noch im Vorbeigehen wahrzunehmen. Selbst die 75 440 Menschenleben, die Corona bereits gekostet hat, spielen in der Debatte kaum noch eine Rolle. Die Opfer sind zu einer Statistik geworden. Die Warnungen Experten nur noch ein Grundrauschen in den Nachrichten.
Als die erste Corona-Welle das Land erreicht und die Deutschen an den Lippen eines bis dato weithin unbekannten Mannes namens Christian Drosten hängen, steht irgendwann die Frage im Raum, ob Deutschland in Wahrheit nicht mehr von Politikern, sondern von Virologen regiert wird. Sollte es tatsächlich so gewesen sein, muss man rückblickend sagen: Es war die Zeit, als wir die Pandemie noch am ehesten im Griff hatten. Doch die Reaktion auf die provokante These lässt nicht lange auf sich warten. Wissenschaft sei nicht alles, hört man immer öfter. Vom Primat der Politik ist die Rede. Vom gesunden Menschenverstand. Und von der Rückkehr zur Normalität. Es ist ein erster Wendepunkt.
Angela Merkel warnt vor „Lockerungsdiskussionsorgien“und die meisten Menschen fühlen sich bei der nüchternen, faktenorientierten Wissenschaftlerin im Kanzleramt noch im Sommer ziemlich gut aufgehoben. Doch je mehr sich das Volk an der Pandemie erschöpft, desto empfänglicher werden manche für einfache Antworten. Für Politiker, die sagen, dass jetzt auch mal Schluss sein muss mit diesen ewigen Einschränkungen. Dass wenigstens ein bisschen Urlaub, ein paar Fans im Fußballstadion und Essen mit Freunden im Restaurant drin sein muss. Dass man sich doch vom Staat nicht alles vorschreiben lassen darf. Das alles ist menschlich. Regierende müssen mit Empathie auf den Frust der Bürger reagieren. Aber es ist eben ein Unterschied, ob man den Menschen das Gefühl gibt, dass man ihren Frust nachvollziehen kann oder ob man diesen Frust zum Maßstab des eigenen politischen Handelns macht.
Die heimliche Macht der Virologen erscheint manchem plötzlich unheimlich. Das ist der Boden, auf dem eine regelrechte Wissenschaftsverachtung erwächst. Die Bild-Zeitung fragt jetzt fast beleidigt: Wer ist eigentlich dieser Professor Drosten? Aber auch immer mehr Politiker wollen sich emanzipieren, warnen davor, alles wissenschaftlichen Erkenntnissen unterzuordnen. Als Kanzleramtsminister Helge Braun in der Ministerpräsidentenkonferenz Anfang dieser Woche Diagramme zeigt, um den Ernst des Moments zu verdeutlichen, sollen einzelne Kollegen mit den Augen gerollt haben – die Horror-Show habe sich abgenutzt, heißt es. Wie bei einem Haufen Kindergartenkindern, die man mit der Geschichte vom bösen Mann irgendwann nicht mehr beeindrucken kann. Nur, dass die Kinder in diesem Fall gestandene Politikerinnen und Politiker sind und der böse Mann ein Virus, das keineswegs nur zur Abschreckung erfunden wurde.
Unter dem Eindruck sinkender Umfragewerte, eines dramatischen wirtschaftlichen Einbruchs und Krawallen bei Demos gegen die Corona-Maßnahmen beginnen auch Ministerpräsidenten, unstrittige Fakten zu einer Art Verhandlungsmasse zu erklären. „Die Leute haben die Schnauze voll“, sagt Hessens Regierungschef Volker Bouffier – und fordert Lockerungen. Als ob eine Pandemie dann zu Ende sei, wenn die Leute keine Lust mehr darauf haben.
Wer vor den Folgen einer solchen „Irgendwann muss auch mal Schluss sein“-Mentalität warnt, wird als Kassandra verunglimpft. Als ob schon das Ausblenden der Wirklichkeit eine politische Leistung sei. „Ich finde diese Diskussion extrem lustig“, sagt Bundestagsvizepräsivon dent Wolfgang Kubicki jovial in einer Talkshow. Es sei doch gar nicht bewiesen, dass die Mutationen ansteckender seien. Doch die Prognosen der Experten sind längst eingetreten. Extrem lustig?
Die Kanzlerin hält lange dagegen, warnt und mahnt, doch sie hat den Laden längst nicht mehr unter Kontrolle. Ihre Beliebtheitskurve zeigt nach unten und die Ministerpräsidenten – die im Gegensatz zu ihr noch einmal gewählt werden wollen – arbeiten längst auf eigene Rechnung. Am Spielfeldrand stehen die angeblich übermächtigen Wissenschaftler, ungläubig und machtlos. „Ich muss sagen, dass es mich schon frustriert, weil eigentlich genau bekannt ist, was man tun muss“, sagt die Virologin Sandra Ciesek in ihrem aktuellen Podcast auf die Frage, ob sie noch Energie habe, sich in der Politikberatung zu engagieren. Natürlich spielten in der Politik auch andere Faktoren eine Rolle, etwa die Wirtschaft oder Bildung. „Trotzdem hat man das Gefühl, dass dieser Mittelweg, dieses es allen recht machen wollen, dass es genau das ist, was viele frustriert. Das frustriert mich als Wissenschaftlerin, aber auch als Privatperson.“
Besonders sichtbar wird das Dilemma, als die Infektionszahlen im Februar wieder stark ansteigen – und sich die Ministerpräsidentenkonferenz trotzdem für Lockerungen entscheidet. In einer Phase, in der die große Mehrheit der Bevölkerung trotz aller Erschöpfung, trotz aller Narben an der Seele hinter den Einschränkungen steht, scheint die Politik vor allem die laute Minderheit zu hören. Nur: Mit dieser irrationalen Politik beruhigt sie die Krakeeler nicht, beunruhigt dafür aber all jene, die sich seit einem Jahr zusammenreißen, um gemeinsam durch die Pandemie zu kommen. Claus Strunz, Mitglied der
Bild-Chefredaktion, lästert, „nicht die Mutante, sondern die Tante im Kanzleramt“sei schuld an der Krise. Das Boulevardblatt zettelt regelrechte Kampagnen gegen Politiker an. Skandal! Hammer-Lockdown! Ahnungslosigkeit! Wut-Ostern! Jedes Wort ein Peitschenhieb – von dem sich Politiker tatsächlich antreiben lassen. Anstatt standzuhalten, driften immer mehr in eine Inszenierung ihrer selbst ab. Jedes Bundesland macht plötzlich, was es will. Die Regeln, die in zermürbenden Sitzungen beschlossen wurden, stehen Stunden später schon wieder infrage.
Der größte Irrtum dabei: Die verantwortlichen Politiker verwechseln die Frustration vieler Bürger über diesen Corona-Chaos-Klub mit einem Frust über die Corona-Maßnahmen als solche. Im aktuellen ZDF-Politbarometer sagen zwei Drittel der Befragten, die derzeitigen Einschränkungen seien gerade richtig oder müssten sogar noch härter ausfallen. Doch die Politik agiert so, als würden Millionen Deutsche auf brennenden Barrikaden dagegen protestieren.
Es ist eine völlig verzerrte Wahrnehmung, die zu einer völlig verzerrten Politik führt. Ja, natürlich leiden die Menschen massiv, aber die meisten arrangieren sich trotzdem, so gut es geht, halten Abstand, vermeiden Kontakte, fliegen nicht nach Mallorca. Viel mehr setzt den vielen Vernünftigen zu, dass sie kaum noch Vertrauen in den Willen und die Fähigkeit der Regierung haben, die Lage wieder in den Griff zu bekommen.
Renate Köcher, eine der profiliertesten Meinungsforscherinnen dieser Republik, hat gerade ihre bittere Diagnose vorgelegt. „Nur noch 30 Prozent der Bürger bewerten das Krisenmanagement der Regierung positiv. Männer urteilen noch kritischer als Frauen, die mittlere und junge Generation kritischer als die 60-Jährigen und Älteren, die aber ebenfalls eine weit überwiegend negative Bilanz ziehen“, schreibt die Chefin des Instituts für Demoskopie in Allensbach. Zu den Zweifeln an der Sinnhaftigkeit vieler Beschlüsse komme Fassungslosigkeit über die Schwächen in der Umsetzung wichtiger Maßnahmen. „Die Bürger vermissen ein generalstabsmäßiges, effizientes Krisenmanagement, das eigentlich zum Selbstbild des Landes und zur Außenwahrnehmung gehört“, analysiert Köcher. Ihr Rat an die Regierenden: „In Krisenzeiten zählen intelligenter Pragmatismus und Kompetenz im Operativen. Ideologische Auseinandersetzungen interessieren die Bürger zurzeit wenig.“
Mit ein bisschen simulierter Normalität wollen Kanzlerin und Ministerpräsidenten das Volk zum Durchhalten animieren. Doch inmitten der dritten Welle wirkt diese offenkundig unlogische Politik wie ein Schildbürgerstreich. Sie ist das Sinnbild eines grundlegenden Kommunikationsproblems. Die Verantwortlichen haben irgendwann aufgehört, die Menschen überzeugen zu wollen. Anstelle von klaren Botschaften verlieren sie sich in Kunstbegriffen. Öffnungsmatrix, Ruhetage, Notbremse – selbst die Sprache scheint zu mutieren. Angela Merkel war noch nie gut darin, ihre Politik zu erklären. Doch diese Sprachlosigkeit setzt dem Durchhaltevermögen vieler Menschen mehr zu als eine Woche mehr mit geschlossenen Läden und Restaurants.
Dass der bayerische Ministerpräsident Markus Söder zu Beginn der Pandemie unverhofft zu einem der populärsten Politiker wurde, hängt auch damit zusammen, dass er sich mehr Mühe als andere gibt, den Ernst der Lage und die daraus resultierenden
Die Krise ist nicht zu Ende, wenn keiner mehr Lust hat
Die „Osterruhe“wird zum Sinnbild des Irrlichterns
Schritte schlüssig zu begründen. Doch auch Söder versäumt es, die Bürger mit klaren Zielen zu motivieren. Lange fehlt jede Perspektive für die schrittweise Rückkehr zu Normalität, dann werden Schulen und Kitas plötzlich trotz steigender Inzidenzwerte und fehlender Schnelltests doch geöffnet. In die Erleichterung vieler Familien mischt sich vom ersten Tag an das Gefühl, dass das nicht lange gut gehen kann. Und Armin Laschet, der immerhin Kanzler werden will? Der sagt, man habe darauf gehofft, dass die steigenden Temperaturen im Frühling helfen werden, und konstatiert: „Wir können so nicht weitermachen.“Was daraus folgt? Darüber werde er „sehr kritisch“mit den Regierungschefs reden. Management-Sprech ohne Substanz – fehlt eigentlich nur noch, dass er Probleme als dornige Chancen bezeichnet.
Für die Meinungsforscherin Köcher steht fest: „Die große Mehrheit der Kritiker traut der Politik nicht mehr zu, dass sie einen Plan für die Bewältigung der Krise hat.“Die Logik der Beschlüsse erschließe sich nicht, wenn Schuhgeschäfte geschlossen bleiben, während die Drogerie offen ist. Zum Symbol dieses Irrlichterns wird die „Osterruhe“am Gründonnerstag, die so wenig durchdacht ist, dass die Kanzlerin sie zwei Tage nach jener nächtlichen Sitzung, während der Ramelow fast auf der Ä-Taste seines Smartphones eingeschlafen ist, kleinlaut wieder kassieren muss.
Mea culpa, mea maxima culpa – das große Schuldeingeständnis von Merkel, es hallt noch nach. Irgendwie passt es ja auch zur Karzeit. Eingeführt wurde das mea culpa übrigens im 11. Jahrhundert. Doch erst in den 1960er Jahren wurde ein ganz entscheidender Satz eingefügt: „Ich bekenne, dass ich Gutes unterlassen (...) habe.“