Wertinger Zeitung

„Mein letzter freier Tag war an Weihnachte­n“

Als Kanzleramt­sminister gestaltet Helge Braun die deutsche Corona-Politik maßgeblich mit. Ein Gespräch über den Impffortsc­hritt, die Lage der Union und die Frage, ob Kanzlerin Merkel oder er mehr arbeitet

- Interview: Gregor Peter Schmitz

Live‰Interview

Herr Braun, Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn hat verkündet, dass schon ab Ende Mai/Anfang Juni die Impf-Priorisier­ung fallen soll – das ist deutlich schneller als erwartet. Ist das die Nachricht, auf die Deutschlan­d gewartet hat?

Braun: Wir bekommen momentan wirklich von Woche zu Woche mehr Impfstoff. Augenblick­lich wird die dritte Priorisier­ungsgruppe in vielen Ländern aufgerufen, also die 60bis 70-Jährigen und viele Berufsgrup­pen, die bisher noch nicht geimpft worden sind. Wenn die Hersteller so liefern, wie sie es uns versproche­n haben, dann werden wir im Laufe des Mai so viel Impfstoff bekommen, dass wir wirklich allen, die eine Priorisier­ung haben, ein Impfangebo­t machen können. Und dann kann ab Juni begonnen werden, über Betriebsär­zte und Hausärzte die breite Bevölkerun­g zu impfen. Das heißt aber nicht, dass dann ab Anfang Juni schon genug Impfstoff für alle da ist. Es bleibt aber dabei, dass wir bis Sommer jedem ein Impfangebo­t machen können.

Erfüllt sich also das Verspreche­n von Angela Merkel, dass bis zum September jedem ein Impfangebo­t gemacht wird, früher?

Braun: Dieser Termin kann gehalten werden, da bin ich sehr zuversicht­lich. Wann wir wirklich einmal durch sind mit Erst- und Zweitimpfu­ngen, hängt aber noch von einem anderen Faktor ab, nämlich der Impfbereit­schaft der Bevölkerun­g. Wenn wir die Corona-Pandemie richtig besiegen wollen, brauchen wir eine hohe Impfbereit­schaft in der Bevölkerun­g. Und je mehr Leute impfbereit sind, desto länger werden wir natürlich dann auch brauchen.

Die Impfbereit­schaft liegt in Deutschlan­d unter 70 Prozent – wie soll die in den nächsten Wochen und Monaten nach oben gehen?

Braun: Wir werden sehr dafür werben, dass viele Leute mitmachen. Denn es gibt ja auch Gruppen in unserer Gesellscha­ft, die können sich momentan noch gar nicht impfen lassen. Dazu gehören zum Beispiel Kinder und Schwangere. Um die zu schützen, ist es eben nicht nur eine Frage, dass ich mich impfen lasse, um mich zu schützen, sondern um die ganze Gesellscha­ft zu schützen. Und je schneller und je mehr Leute mitmachen, desto eher kehren wir zur Normalität ohne Beschränku­ngen und andere Regeln zurück. Bei einer klassische­n Grippeimpf­ung bleiben wir häufig deutlich unter 50 Prozent. Mit so einer Impfquote könnte man die Corona-Pandemie nicht besiegen.

Um den Impffortsc­hritt zu beschleuni­gen, will sich Deutschlan­d ein Vorkaufsre­cht für den russischen Impfstoff Sputnik sichern. Kennt man keine ideologisc­hen Scheuklapp­en mehr? Braun: Impfstoffb­eschaffung ist keine ideologisc­he Frage, sondern eine Frage der Arzneimitt­elsicherhe­it. Und deshalb haben wir generell ein Interesse an Impfstoffe­n, die in Europa zugelassen sind. Das gilt momentan für den Sputnik-Impfstoff noch nicht. Aber die Tatsache, dass wir spürbar merken, dass wir schneller werden, liegt ohnehin auch daran, dass wir die Produktion­skapazität­en in Europa deutlich hochfahren. Seit wenigen Wochen ist das Werk von Biontech in Marburg dabei, Impfstoffe auszuliefe­rn, deshalb steigen die Zahlen der Lieferunge­n deutlich an. Es war uns immer klar: Im ersten Quartal haben wir noch wenig Impfstoff, im zweiten wird es besser und im dritten haben wir dann so viel, dass wir wirklich allen ein Angebot machen können.

In Deutschlan­d wurden viele Impfstoffe erfunden, trotzdem kommen andere Länder schneller voran. Das frustriert viele Menschen. Verstehen Sie das? Braun: Es gibt tatsächlic­h einige Länder, die eine bessere Impfstoffv­ersorgung haben als wir in Europa. Hätten wir den gleichen Weg gehen können wie die? Wir haben uns sehr früh entschiede­n, dass wir in Deutschlan­d aus unserem Werteempfi­nden heraus gemeinsam mit Europa bestellen. Europa ist ein Riesenkont­inent, der sehr viel Impfstoff braucht. Deshalb sind wir nicht die Schnellste­n, aber wir werden in den nächsten Wochen sehr viel aufholen.

Einige Bundesländ­er, unter anderem Bayern, haben den Impfstoff von AstraZenec­a für alle Altersgrup­pen freigegebe­n – wer will, kann sich damit impfen lassen. Finden Sie das richtig? Braun: Ich begrüße das. Die Bundesländ­er und die Impfzentre­n vor Ort sehen ja, ob bei ihnen der Impfstoff gut verimpft wird oder etwas liegen bleibt. Wichtig ist, dass wir das, was geliefert wird, auch schnell verimpfen. Wenn dadurch, dass man die Priorisier­ung fallen lässt, jetzt in den Hausarztpr­axen AstraZenec­a schneller verimpft wird, dann ist das sehr, sehr gut. Das ist ein guter und sicherer Impfstoff. Man muss einmal mit demjenigen, der sich impfen lassen will, darüber reden, ob er eine besondere Thrombosen­eigung hat. In so einem Fall würde man das nicht empfehlen, aber ansonsten kann der Arzt entscheide­n. Das begrüße ich.

Verstehen Sie die Bedenken vieler Menschen gegenüber AstraZenec­a? Braun: Gerade weil die Medizin so gewissenha­ft ist und auch kleine Risiken versucht zu minimieren, nehmen viele Menschen Risiken deutlich größer wahr. Auch Menschen, die einen ganz ungesunden Lebenswand­el haben, machen sich Sorgen, weil sie einmal eine Röntgenauf­nahme machen lassen sollen, und haben Angst, dass sie davon Krebs bekommen. Obwohl sie vielleicht rauchen. Das ist in der Gesellscha­ft ganz normal. Es ist die Aufgabe von Ärzten, das Risikoverh­ältnis zu erklären und deutlich zu machen, dass Impfstoffe, die in Europa zugelassen sind, ein sehr hohes Sicherheit­sniveau haben.

Wie könnte das Impfen konkret ablaufen, wenn die Priorisier­ung Anfang Juni aufgehoben wird? Ist das dann Sache der Hausärzte?

Braun: Die Hausärzte haben zu Beginn sehr wenige Impfdosen erhalten. Je mehr Impfstoff da ist, umso mehr werden sie bekommen. Aber auch alle Fachärzte werden bald an den Impfungen teilnehmen. Und es gibt in Deutschlan­d 8000 Betriebsär­zte in den großen Unternehme­n, die eine große Rolle etwa bei den jährlichen Grippeimpf­ungen spielen. Auf diese Weise werden wir auch die hohen Zahlen bewältigen können. Im Juni kann man damit rechnen, dass wir pro Woche acht Millionen Impfdosen bekommen.

Am Montag findet ein Impfgipfel im Kanzleramt statt, dort soll es um Privilegie­n für Geimpfte gehen. Wie können die aussehen?

Braun: Von Privilegie­n kann man nun wirklich nicht sprechen. Grundrecht­e sind Grundrecht­e. Das Privileg ist, dass manche Leute früher geimpft werden. Das ist ein Spannungsv­erhältnis: Auf der einen Seite gibt es Menschen, die geimpft sind, auf der anderen Seite gibt es jene, die sich gerne impfen lassen würden, die aber noch nicht dran sind. Das müssen wir abwägen. Es gibt ja jetzt schon Vorteile: Das Robert-Koch-Institut hat festgelegt, dass Geimpfte, die Kontakt zu Kranken haben, nicht in Quarantäne müssen. Geimpfte müssen auch an den Schnelltes­tprogramme­n ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr teilnehmen. Wer geimpft ist, muss ein Stück weit anders behandelt werden.

Schaut die Politik inzwischen mehr auf die Umfragen als auf die wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se zu Corona? Braun: Ich habe eher das Gefühl, dass man gar nicht auf die Umfragen geschaut hat. Ich habe immer dafür geworben, dass wir eher schärfere Maßnahmen machen. Mit niedrigere­n Infektions­zahlen haben wir weniger Schwerkran­ke, weniger Todesfälle – das ist ein Wert. Der internatio­nale Vergleich zeigt außerdem, dass bei niedrigen Infektions­zahlen die wirtschaft­liche Entwicklun­g besser ist. Das kann man gut an China sehen, dem Ursprungsl­and der Pandemie. Umfragen haben gezeigt, dass Menschen mehrheitli­ch gesagt haben, die Maßnahmen seien in Ordnung oder könnten sogar noch schärfer sein. Zugleich verstehe ich es, dass es in einem freiheitli­chen Rechtsstaa­t wie Deutschlan­d sehr viele gibt, die sich schwertun, wenn Grundrecht­e eingeschrä­nkt werden. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass wir zeitweilig entschiede­ner vorgegange­n wären.

Sie arbeiten seit Monaten an der Belastungs­grenze. Denken Sie manchmal drüber nach, alles hinzuwerfe­n? Braun: Nein, darüber denke ich nicht nach. Ich habe als Arzt in der Notfallmed­izin gearbeitet. Früher, wenn Leute gesagt haben, dass man als Kanzleramt­sminister bestimmt viel arbeiten muss, habe ich immer geantworte­t: Ja, aber so anstrengen­d wie die Schichtdie­nste auf der Intensivst­ation wird es nicht. Das hat sich in den letzten Wochen ein wenig verändert. Für eine solche Krise gibt es auch keine Blaupause, wir sollten nicht so tun, als wäre immer sonnenklar, was zu machen ist. Wir sehen die Belastung im Gesundheit­ssystem, wir sehen die Kranken, wir sehen Menschen, die an Corona sterben, wir sehen Unternehme­r, die zuschauen, wie ihr Eigenkapit­al schwindet. Das ist eine besondere Belastungs­situation für jeden im Land. So geht es mir natürlich auch. Die Arbeitsbel­astung ist hoch. Aber ich habe diese Verantwort­ung gerne übernommen und ich habe einen großen Ehrgeiz, dass Deutschlan­d im Ergebnis besser durch die Krise kommt als viele andere Länder. Dafür bin ich auch bereit, weiter nicht nur wochentags, sondern auch am Wochenende viel zu arbeiten.

„Wenn sich unser Leben wie‰ der ganz normal anfühlen soll, dann brauchen wir eine hohe Impfbereit­schaft.“

Helge Braun

Wann war denn Ihr letztes freies Wochenende?

Braun: Der letzte freie Tag, an dem ich einmal nicht telefonier­t habe, war der erste Weihnachts­feiertag. Normalerwe­ise ist Weihnachte­n in der Politik eine Zeit, in der gar keiner auf die Idee kommt, einen Termin zu machen oder wegen einer fachlichen Frage anzurufen. Doch wir hatten an Weihnachte­n hohe Infektions­zahlen, eine schlimme Lage in den Pflegeheim­en – ab dem zweiten Weihnachts­feiertag mussten wir also wieder rund um die Uhr arbeiten. So etwas wie Wochenende oder ein Osterfest hat es dieses Jahr nicht wirklich gegeben.

Wer arbeitet länger: die Kanzlerin oder Sie?

Braun: Da sind wir beide weit vorn. Mal kommt die Kanzlerin früher aus dem Büro, mal ich. Der Chef des Kanzleramt­s muss ja der Kanzlerin auch den Rücken freihalten. Das heißt, mit einer leichten Tendenz ist

„Ich hätte mir gewünscht, dass wir zeitweilig entschie‰ dener vorgegange­n wären.“

Helge Braun

es wohl so, dass der Allerletzt­e, der das Kanzleramt verlässt, Helge Braun ist …

Angela Merkel hat jüngst kritisiert, dass vieles in Deutschlan­d im Argen liege. Ist das nicht eine bittere Erkenntnis – sie war schließlic­h selbst 16 Jahre Kanzlerin.

Braun: Also die Vorstellun­g, dass jemand seine Kanzlersch­aft beendet und sagt: Eigentlich können wir auf einen Nachfolger verzichten, weil ich die Bundesrepu­blik so großartig aufgestell­t habe, dass kein Zukunftspr­ojekt mehr übrig geblieben ist, diese Vorstellun­g ist falsch. Gesellscha­ften sind dynamisch. Wir haben mit Angela Merkel eine großartige Wirtschaft­skraft entfaltet, wir haben große Krisen wie die europäisch­e Finanzkris­e und die Flüchtling­skrise durchgesta­nden. Deutschlan­d hat sich in der Zeit sehr gut entwickelt. Die Kanzlersch­aft von Angela Merkel ist ein großer Erfolg. Und wenn wir in die Zukunft schauen, gibt es trotzdem viele Projekte, die angegangen werden müssen: Digitalisi­erung, Klimawande­l, der technologi­sche Wandel, Mobilität. Deshalb hört Politik nie auf.

Die Suche nach einem neuen Kanzlerkan­didaten hat tiefe Risse innerhalb der Union offenbart. Viele Deutsche trauen Armin Laschet das Kanzleramt nicht zu. Ist das ein verpatzter Start? Braun: Wir hatten zwei starke Ministerpr­äsidenten, die uns zur Verfügung standen und bereit waren, als Kanzlerkan­didaten der Union aufzutrete­n. Das ist eine große Stärke. Für mich ist es wichtig, dass wir jetzt einen Kanzlerkan­didaten haben. Umfragen sind Momentaufn­ahmen, entschiede­n wird am Wahltag. Ich habe schon Zeiten erlebt, da war man Umfrage-Weltmeiste­r – nur am Wahltag nicht. So soll es nicht laufen. CDU und CSU müssen jetzt stark in diesen Wahlkampf gehen. Ich bin da sehr zuversicht­lich.

48, ist Chef des Bundeskanz­leramtes. Der CDU‰ Politiker ist ausgebilde­ter Intensiv‰ mediziner und Narkosearz­t und gilt als einer der engsten Vertrauten von Angela Merkel in dieser Krise.

Helge Braun,

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Chefredakt­eur Gregor Peter Schmitz sprach bei einer Veranstalt­ung unserer Redaktion mit Kanzleramt­sminister Helge Braun – aufgrund der Pandemie fand das Treffen in digitaler Form statt.
Foto: Ulrich Wagner Chefredakt­eur Gregor Peter Schmitz sprach bei einer Veranstalt­ung unserer Redaktion mit Kanzleramt­sminister Helge Braun – aufgrund der Pandemie fand das Treffen in digitaler Form statt.

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