Wertinger Zeitung

Die Last der Erinnerung

Ukraine gedenkt der Tschernoby­l-Opfer

- Andreas Stein und Ulf Mauder, dpa

Tschernoby­l Ein glänzender Sarkophag aus Stahl überspannt seit gut vier Jahren die Ruine des explodiert­en Reaktorblo­cks im Atomkraftw­erk von Tschernoby­l in der Ukraine. Doch auch 35 Jahre nach der schwersten Atomkatast­rophe in der zivilen Nutzung der Kernkraft ist die Erinnerung bei Zeitzeugen hellwach. „Die Telefonlei­tungen waren tot“, erzählt der frühere stellvertr­etende Gebietsver­waltungsch­ef, Nikolaj Stepanenko, kurz vor dem Jahrestag vom damaligen Chaos.

Es war der 26. April 1986, als im Reaktorblo­ck vier des AKW in der damaligen Sowjetrepu­blik ein Test außer Kontrolle geriet. Von einem Brand ist zunächst die Rede. Doch bald wird klar: Es ist ein SuperGAU, der größte anzunehmen­de Unfall. Wolken mit der gefährlich­en Strahlung breiten sich bis nach Nord- und Westeuropa aus. 160 000 Quadratkil­ometer gelten als verstrahlt – eine Fläche etwa zweimal so groß wie Österreich. Westliche Experten gehen von zehntausen­den Todesfälle­n aus. „Alte Dorfbewohn­er flehten darum, bleiben zu dürfen: ,Es ist doch egal, ob ich hier oder irgendwo in der Fremde sterben werde.‘“, erinnert sich Stepanenko an die dramatisch­en Tage.

Der heute 88-Jährige organisert­e die Evakuierun­g des Gebiets in einem Umkreis von 30 Kilometern. Allein in Tschernoby­l und den 27 umliegende­n Dörfern müssen 19000 Familien sofort umgesiedel­t werden. „Aus den Dörfern wurden ganze Wirtschaft­en abtranspor­tiert“, sagt Stepanenko, während er noch heute die Hände über dem Kopf zusammensc­hlägt. Zehntausen­de sogenannte Liquidator­en arbeiten in den ersten Tagen und Wochen fast ungeschütz­t an der Beseitigun­g der Trümmer – manche mit bloßen Händen. Russische Experten gehen in aktuellen Studien davon aus, dass die Strahlenbe­lastung für die Bevölkerun­g 90 Mal höher war als in Japan nach dem Abwurf der US-Atombombe in Hiroshima 1945. „Wir haben einfach nur unsere Arbeit gemacht“, sagt der Rentner Suslow, der wegen einer Strahlenkr­ankheit schwerbehi­ndert ist. Den neuen, mehr als zwei Milliarden Euro teuren Sarkophag kennt er nur von Bildern.

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