Die Last der Erinnerung
Ukraine gedenkt der Tschernobyl-Opfer
Tschernobyl Ein glänzender Sarkophag aus Stahl überspannt seit gut vier Jahren die Ruine des explodierten Reaktorblocks im Atomkraftwerk von Tschernobyl in der Ukraine. Doch auch 35 Jahre nach der schwersten Atomkatastrophe in der zivilen Nutzung der Kernkraft ist die Erinnerung bei Zeitzeugen hellwach. „Die Telefonleitungen waren tot“, erzählt der frühere stellvertretende Gebietsverwaltungschef, Nikolaj Stepanenko, kurz vor dem Jahrestag vom damaligen Chaos.
Es war der 26. April 1986, als im Reaktorblock vier des AKW in der damaligen Sowjetrepublik ein Test außer Kontrolle geriet. Von einem Brand ist zunächst die Rede. Doch bald wird klar: Es ist ein SuperGAU, der größte anzunehmende Unfall. Wolken mit der gefährlichen Strahlung breiten sich bis nach Nord- und Westeuropa aus. 160 000 Quadratkilometer gelten als verstrahlt – eine Fläche etwa zweimal so groß wie Österreich. Westliche Experten gehen von zehntausenden Todesfällen aus. „Alte Dorfbewohner flehten darum, bleiben zu dürfen: ,Es ist doch egal, ob ich hier oder irgendwo in der Fremde sterben werde.‘“, erinnert sich Stepanenko an die dramatischen Tage.
Der heute 88-Jährige organiserte die Evakuierung des Gebiets in einem Umkreis von 30 Kilometern. Allein in Tschernobyl und den 27 umliegenden Dörfern müssen 19000 Familien sofort umgesiedelt werden. „Aus den Dörfern wurden ganze Wirtschaften abtransportiert“, sagt Stepanenko, während er noch heute die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Zehntausende sogenannte Liquidatoren arbeiten in den ersten Tagen und Wochen fast ungeschützt an der Beseitigung der Trümmer – manche mit bloßen Händen. Russische Experten gehen in aktuellen Studien davon aus, dass die Strahlenbelastung für die Bevölkerung 90 Mal höher war als in Japan nach dem Abwurf der US-Atombombe in Hiroshima 1945. „Wir haben einfach nur unsere Arbeit gemacht“, sagt der Rentner Suslow, der wegen einer Strahlenkrankheit schwerbehindert ist. Den neuen, mehr als zwei Milliarden Euro teuren Sarkophag kennt er nur von Bildern.