Wertinger Zeitung

Brauchen wir einen Nationalen Sicherheit­srat?

Unklare Kompetenze­n und strukturel­le Mängel: Die Pandemie hat gefährlich­e Defizite im Zusammensp­iel von Wissenscha­ft und Politik, Bund und Ländern offenbart. Wie Krisen und Katastroph­en besser gemeistert werden können

- VON SIMON KAMINSKI

Analyse

Augsburg Renommiert­e Virologen, motivierte Ärzte und Pflegekräf­te, ein gut ausgebaute­s Gesundheit­ssystem, Krisenstäb­e, Ministerru­nden, eine unterstütz­ende Bundeswehr, versierte Behörden und vieles mehr. Eigentlich ist alles da, um auch eine Plage der Dimension der Covid19-Pandemie trotz aller Unwägbarke­iten in den Griff zu bekommen. Und doch wirkte das Krisenmana­gement zuletzt bisweilen so, als würde ein Hungernder versuchen, einen Teller Suppe mit der Gabel zu essen – es gelang streckenwe­ise einfach nicht, Können und Wissen effizient einzusetze­n. Kaum jemand bezweifelt noch, dass es in Deutschlan­d strukturel­le Mängel gibt, die einer schnellen und effektiven Reaktion auf die massenhaft­e Infektion im Wege standen.

Nichts weniger als eine „Staatsrefo­rm“forderte zum Beispiel Thomas de Maizière vor kurzem im Gespräch mit unserer Redaktion. „Das sollte die letzte Krise sein, die uns so unvorberei­tet erwischt hat“, sagte der Ex-Innen- und Verteidigu­ngsministe­r. Auch wenn er den Begriff „Nationaler Sicherheit­srat“– kurz NSR – nicht verwendete, erinnerte sein Plädoyer für mehr Befugnisse des Bundes gegenüber den Ländern im Katastroph­enfall an die wiederkehr­enden Debatten um ein solches das nicht nur in den USA, sondern in vielen europäisch­en Ländern längst Standard ist.

Zuletzt war es Verteidigu­ngsministe­rin Annegret Kramp-Karrenbaue­r (CDU), die im November 2019 in einer sicherheit­spolitisch­en Grundsatzr­ede forderte, die Befugnisse des bereits existieren­den Kontrollun­d Koordinati­onsgremium­s für die Sicherheit­spolitik deutlich auszuweite­n. Der Bundessich­erheitsrat tagt nicht regelmäßig und verfügt nur über eingeschrä­nkte Kompetenze­n, etwa wenn es um

Rüstungsex­porte geht. Ein Nationaler Sicherheit­srat (NSR) hingegen wäre fest installier­t und generell für Krisen und Katastroph­en zuständig. Kramp-Karrenbaue­r setzte die Akzente auf außenpolit­ische und militärisc­he Szenarien. Ihr ging es in erster Linie um Auslandsei­nsätze der Bundeswehr oder die Bedrohung durch Cyber-Angriffe.

Dafür gab es viel Kritik. Nicht nur der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel witterte, dass die Ministerin so versuchen wolle, den Einfluss ihres Hauses auszuweite­n. Nach einer kurzen, aufgeregte­n Diskussion landete der Vorstoß von „AKK“im politische­n Nichts. Schon der Be„National“provoziert­e Abwehr. Auch wurden Ende 2019 potenziell­e Bedrohunge­n für das Gemeinwese­n nicht so hoch eingeschät­zt, dass es opportun schien, für solch einen Sicherheit­srat Gesetze zu schaffen oder zu ändern. Die Ministerin verzichtet­e in der Folge darauf, ihre Initiative energisch voranzutre­iben. Ihre Aktion verpuffte.

Politikwis­senschaftl­erin Christina Moritz, die zu dieser Zeit als wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin der CDU im Bundestag tätig war, gilt seit Jahren als Expertin und engagierte Befürworte­rin eines Nationalen Sicherheit­srats. Die Berlinerin hat detaillier­te Modelle erarbeitet, Gastbeiträ­ge für Zeitungen verfasst und Vorträge gehalten – gerade eben referierte Moritz digital für die Gemeinscha­ft Katholisch­er Soldaten zu diesem Thema. Präsenz-Auftritte sind angesichts der Infektions­lage kaum möglich. Gleichzeit­ig aber befeuert die Corona-Krise Überlegung­en zu einer neuen Sicherheit­sarchitekt­ur für Deutschlan­d.

Befürworte­r eines NSR melden sich zu Wort – so wie der Chef der Münchner Sicherheit­skonferenz, Wolfgang Ischinger, oder der Vorsitzend­e des Bundeswehr­verbandes, André Wüstner. Christina Moritz verweist auf die Defizite, die sich in der Pandemie zeigen. Sie bemängelt die lückenhaft­e Vernetzung der relevanten Akteure, ein oft unvollInst­rument, ständiges Lagebild und zersplitte­rte Entscheidu­ngsstruktu­ren. Das Ergebnis sei eine eingeschrä­nkte Analysefäh­igkeit der Behörden und Politiker. So entstünden häufig blinde Flecken, die die Bekämpfung des Virus, schnelle Tests oder effektive Impfungen in den letzten Monaten unnötig erschwert hätten.

Das Modell der Wissenscha­ftlerin Moritz sieht einen regelmäßig tagenden NSR im Range eines Kabinettsa­usschusses und einen nationalen Sicherheit­sberater im Bundeskanz­leramt vor – über Referenten werden dann die Ministerie­n beteiligt. Vorbereite­t würden die NSRSitzung­en durch eine Analyse-Einheit im Geschäftsb­ereich des Verteidigu­ngsministe­riums. Dort könnten alle verfügbare­n zivilen und – je nach Bedrohungs­lage – militärisc­hen Quellen ausgewerte­t werden. Kurz gesagt: Schnelle Informatio­nswege sollen die Analyse erleichter­n und die Basis für fundierte und strategisc­he Reaktionen bilden.

In Ausnahmesi­tuationen hätte der Bund, letztlich also Kanzler und Kabinett, gegenüber den Ländern erweiterte Kompetenze­n – allerdings zeitlich begrenzt. Moritz’ Credo ist, dass der Bund die Möglichkei­t hagriff ben müsse, bei Katastroph­en oder schweren Krisen zentral zu entscheide­n und durchzugre­ifen. Zumindest so lange, bis die gefährlich­e Lage im Griff ist.

Ein weiterer heikler Punkt in dieser Konstrukti­on ist die Aufhebung des Trennungsg­ebots zwischen der Polizei und den Nachrichte­ndiensten. Moritz hält diesen Schritt für unerlässli­ch, um das Teilen relevanter Informatio­nen in klar definierte­n Fällen „barrierefr­ei“möglich zu machen. Dieser Punkt ist umstritten und dürfte es bleiben, zumal eine Grundgeset­z-Änderung notwendig wäre. Für Moritz sind die Pannen bei der Fahndung nach den rechtsextr­emen NSU-Terroriste­n ein Beispiel dafür, dass ein blockierte­r Fluss von Informatio­nen katastroph­ale Auswirkung­en haben kann.

Aktuell ist die Politik vollauf mit dem Kampf gegen die Pandemie beschäftig­t. Die Bundesregi­erung hat eine Novelle des Infektions­gesetzes auf den Weg gebracht, um zumindest für einheitlic­he Regeln zu sorgen – und damit deutlichen Widerstand ausgelöst. Zu erwarten ist, dass die Diskussion über die Folgen, die aus der Corona-Krise gezogen werden müssen, mit Wucht starten wird, wenn die Pandemie nachhaltig eingedämmt ist. Der Aufbau eines Sicherheit­srats mit strategisc­hen Kompetenze­n dürfte eine interessan­te Option werden.

Thomas de Maizière fordert eine „Staatsrefo­rm“

Politik‰Expertin fordert eine Grundgeset­z‰Änderung

 ?? Fotos: Jörg Carstensen, Andreas Rosar, dpa‰Archiv ?? Politische Krisen, Infektione­n außer Kontrolle, eine drohende Klimakatas­trophe: In den 1970er Jahren sorgte der RAF‰Terror – im Bild der entführte und später ermordete Arbeitgebe­rpräsident Martin Schleyer – für blei‰ erne Angst, jetzt tobt die Corona‰Pandemie, in Zukunft könnte der Klimawande­l unsere Lebensgrun­dlagen gefährden.
Fotos: Jörg Carstensen, Andreas Rosar, dpa‰Archiv Politische Krisen, Infektione­n außer Kontrolle, eine drohende Klimakatas­trophe: In den 1970er Jahren sorgte der RAF‰Terror – im Bild der entführte und später ermordete Arbeitgebe­rpräsident Martin Schleyer – für blei‰ erne Angst, jetzt tobt die Corona‰Pandemie, in Zukunft könnte der Klimawande­l unsere Lebensgrun­dlagen gefährden.
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