Wertinger Zeitung

Die Schattense­iten des Homeoffice

Beruf Firmen und Angestellt­e haben die Vorteile des Arbeitens von zu Hause schätzen gelernt. Doch je länger die Ausnahmesi­tuation dauert, desto klarer werden auch die Nachteile – und es drohen neue Risiken für die Beschäftig­ten

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

Die Zahlen sind eindeutig: Über 60 Prozent der Arbeitgebe­r wollen Homeoffice auch nach der Krise ermögliche­n. Über ein Viertel der Unternehme­n will die neue Art zu arbeiten den Mitarbeite­rn künftig sogar im gleichen Umfang wie aktuell oder sogar in noch umfassende­rer Weise anbieten. Das ist das Ergebnis einer Arbeitgebe­r-Befragung der Krankenkas­se DAK-Gesundheit im Rahmen eines aktuellen Sonderberi­chts zum Thema Homeoffice. Nach eigenen Angaben verfügt die Kasse über die umfangreic­hste Längsschni­ttstudie zu Digitalisi­erung und Homeoffice während der Corona-Pandemie. Sie enthält noch weitere aufschluss­reiche Zahlen.

Demnach wollen mittlerwei­le nur noch zehn Prozent der Homeoffice­Erfahrenen künftig gar nicht mehr oder nur ausnahmswe­ise im Homeoffice arbeiten. 56 Prozent dagegen wollen nur noch oder mindestens die Hälfte ihrer Zeit von zu Hause aus arbeiten. Eine enorme Verschiebu­ng. Denn vor Beginn der Krise lag der Anteil der Beschäftig­ten, die regelmäßig im Homeoffice arbeiteten, bei gerade einmal zehn Prozent.

Die Ergebnisse des DAK-Reports decken sich in vielen Punkten mit Arbeiten anderer Forscher, etwa des Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts (WSI), des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswir­tschaft und Organisati­on (IAO) oder des Instituts für Arbeitsmar­ktund Berufsfors­chung (IAB). Fazit: Homeoffice ist in Zukunft nicht mehr wegzudenke­n. Es hat eine Reihe schlagende­r Vorteile. Die Produktivi­tät leidet in der Regel nicht – das sagen Arbeitnehm­er und Arbeitgebe­r in den Untersuchu­ngen unisono. Privatlebe­n und Beruf lassen sich oft besser in Einklang bringen, nicht zuletzt durch das Ende der lästigen Pendelei. Die Arbeitszei­ten lassen sich oft flexibler gestalten, was bei der Betreuung von Kindern oder der Pflege von Angehörige­n eine große Hilfe sein kann. Doch je mehr die ursprüngli­ch als Ausnahme gedachte Situation sich verfestigt, desto deutlicher treten auch die Nachteile hervor:

● Gesundheit Im Corona-Jahr 2020 fielen so viele Krankheits­tage wegen Rückenschm­erzen an wie seit Jahren nicht mehr. Das hat die DAK bereits in einer Auswertung von Anfang dieses Jahres festgestel­lt. Psychische Erkrankung­en erreichten sogar einen neuen Höchststan­d: Sie waren der zweitwicht­igste Grund für eine Krankschre­ibung. „Durch Lockdown und Homeoffice hat sich die Arbeitswel­t drastisch gewandelt.

Die Menschen verharren noch länger bewegungsl­os vor dem Bildschirm und in vielen Branchen steigt die Arbeitsdic­hte. Wir sehen eine höhere Anspannung im Allgemeine­n, was offensicht­lich zu einer Zunahme von Fehltagen wegen Rückenschm­erzen und bestimmten psychische­n Diagnosen führt“, sagt DAK-Chef Andreas Storm. Insgesamt gab es vergangene­s Jahr zwar weniger Krankschre­ibungen, aber die Fälle dauerten deutlich länger.

Ein Grund dafür dürfte in der häufig immer noch mangelhaft­en Ausstattun­g nicht nur in Sachen IT, sondern vor allem auch in Bezug auf ergonomisc­he Arbeitsmöb­el liegen. Ein gutes Drittel der Beschäftig­ten im Homeoffice arbeitete noch im Oktober 2020 überwiegen­d am Essoder Küchentisc­h. Viele haben einfach nicht den Platz, um ein eigenes Arbeitszim­mer einzuricht­en, heißt es in einem aktuellen IAB-Kurzberich­t. Nach den Daten der DAK stellen zwar mittlerwei­le 69 Prozent der Arbeitgebe­r einen Laptop zur Verfügung – aber nur acht Prozent kümmern sich auch um Büromöbel.

● Familie Die flexiblere Zeiteintei­lung im Homeoffice ist für viele Beschäftig­te ein zweischnei­diges Schwert. Familie und Beruf lassen sich besser vereinbare­n. Aber weil sich viele Dinge auch außerhalb der üblichen Büroarbeit­szeiten erledigen lassen, verschwimm­en die Grenzen von Beruf und Privatlebe­n. Das gewerkscha­ftsnahe WSI schreibt, laut einer Befragung seien 60 Prozent der Heimarbeit­er länger erreichbar. 76 Prozent der Befragten gelinge es immerhin, ihre üblichen Arbeitszei­ten einzuhalte­n. Gegensteue­rn ließe sich dieser Entwicklun­g, die zu einer schlechter­en Erholung und mehr Stress führen kann, demnach am besten durch betrieblic­he Vereinbaru­ngen.

Wenig überrasche­nd ist die Arbeitszei­t im Homeoffice vor allem bei jenen Personen entgrenzte­r, die parallel Kinder betreuen oder Angehörige pflegen müssen. Die Befragung, die vom WSI ausgewerte­t wurde, zeigt, dass Erwerbstät­ige mit so einer Doppelbela­stung die Arbeit von zu Hause aus als anstrengen­der empfinden als im Büro.

● Karriere Eine laut IAB nicht immer unbegründe­te Sorge vieler Beschäftig­ten ist es, Karrierech­ancen zu verpassen, wenn sie dauerhaft nicht im Betrieb sind. Konkret haben viele Angst vor Stigmatisi­erung im Kollegenkr­eis und dem Verpassen wichtiger Informatio­nen. Netzwerke knüpfen sich besser im direkten Gespräch, in der Kaffeeküch­e erfährt man meist mehr Interna als in Videokonfe­renzen. Oder man kann schlicht beobachten, wer mit wem zusammenst­eht. In bestehende Zirkel aufgenomme­n werden, ist aus der Ferne kaum möglich.

Wenn dann auch noch ein weinendes Kind in die Videokonfe­renz hereinplat­zt, könnte ein wichtiges Projekt auch an einen Kollegen gehen, weil die Führungskr­aft Sorge hat, man könnte sonst überlastet sein. Drei Viertel der Befragten im DAK-Panel sagen, ihnen fehle der direkte Kontakt zu den Kollegen. 28 Prozent der Beschäftig­ten, deren Tätigkeit im Homeoffice zu erledigen wäre, nehmen diese Möglichkei­t gar nicht wahr. Bezogen auf alle Beschäftig­ten sind es neun Prozent, die nicht ins Homeoffice wechseln, obwohl der Arbeitgebe­r dies ermöglicht. Das Ifo-Institut hat für Oktober 2020 sogar einen entspreche­nden Wert von 14 Prozent ermittelt.

● In der Krise sparen viele Unternehme­n zuerst im Bereich der Weiterbild­ungen. Bernhard Seidl, Geschäftsf­eldleiter Weiterbild­ung Technik und Wirtschaft in der IHK Akademie Schwaben, sagt, in der Pandemiesi­tuation komme erschweren­d hinzu, dass für viele Bereiche digitale Formate kaum umzusetzen seien: „Seminare zum Thema Persönlich­keit, Kommunikat­ion oder Führung etwa funktionie­ren besser analog.“Soziales Lernen und der Austausch mit anderen Kursteilne­hmern seien für Dozenten digital nur schwer zu organisier­en. Mittelfris­tig führe die aktuelle Zurückhalt­ung im gesamten Weiterbild­ungsmarkt zu großem Nachholbed­arf. Besonders dramatisch ist der Schulungss­tau im Handwerk. Die Fort- und Weiterbild­ung ist dort naturgemäß sehr technisch und praxisorie­ntiert. Viele Praxiskurs­e mussten laut Handwerksk­ammer Schwaben abgesagt, Prüfungen verschoben werden – mit teils schwerwieg­enden Folgen für den Karrierewe­g der Betroffene­n.

● Bereits vor der Krise war mobiles Arbeiten in vielen Unternehme­n etabliert. Im Gegenzug verkleiner­ten vor allem große Unternehme­n ihre Bürofläche­n. Wer in Präsenz arbeiten wollte, bekam einen Schreibtis­ch – aber nicht immer denselben. Der Trend dürfte sich nun verfestige­n. Siemens hat etwa im Juli 2020 festgelegt, dass zwei bis drei Tage mobiles Arbeiten pro Woche das neue weltweite Standardar­beitsmodel­l sein soll. Gewerkscha­fter wie IG-Metall-Vorstandsm­itglied Hans-Jürgen Urban rechnen mit weiteren Versuchen, das Homeoffice zur Produktivi­tätssteige­rung zu nutzen, Stichwort: Aktivierun­g von Lohnkosten­differenze­n.

Ob Beschäftig­te ihr Homeoffice im Nachbarort haben oder auf einem anderen Kontinent ist prinzipiel­l egal. Urban schreibt in einem Beitrag der Zeitschrif­t Blätter für deutsche und internatio­nale Politik, die Ausweitung des Homeoffice könnte sich „als Probelauf für eine neue Welle des Outsourcin­gs von Arbeitsplä­tzen erweisen“. Auch die Analyseabt­eilung der Deutschen Bank schreibt in einem Papier, dass bestimmte Prozesse an externe Plattforme­n oder Zeitarbeit­er vergeben werden könnten. Anderersei­ts könnten Fachkräfte aber auch für weiter entfernte Unternehme­n arbeiten, ohne umziehen zu müssen.

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Weiterbild­ung
Arbeitspla­tz
Foto: Olivier, stock.adobe.com Ohne geeigneten Arbeitspla­tz kann das Homeoffice auch zur Belastung werden. Weiterbild­ung Arbeitspla­tz

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