Die Schattenseiten des Homeoffice
Beruf Firmen und Angestellte haben die Vorteile des Arbeitens von zu Hause schätzen gelernt. Doch je länger die Ausnahmesituation dauert, desto klarer werden auch die Nachteile – und es drohen neue Risiken für die Beschäftigten
Die Zahlen sind eindeutig: Über 60 Prozent der Arbeitgeber wollen Homeoffice auch nach der Krise ermöglichen. Über ein Viertel der Unternehmen will die neue Art zu arbeiten den Mitarbeitern künftig sogar im gleichen Umfang wie aktuell oder sogar in noch umfassenderer Weise anbieten. Das ist das Ergebnis einer Arbeitgeber-Befragung der Krankenkasse DAK-Gesundheit im Rahmen eines aktuellen Sonderberichts zum Thema Homeoffice. Nach eigenen Angaben verfügt die Kasse über die umfangreichste Längsschnittstudie zu Digitalisierung und Homeoffice während der Corona-Pandemie. Sie enthält noch weitere aufschlussreiche Zahlen.
Demnach wollen mittlerweile nur noch zehn Prozent der HomeofficeErfahrenen künftig gar nicht mehr oder nur ausnahmsweise im Homeoffice arbeiten. 56 Prozent dagegen wollen nur noch oder mindestens die Hälfte ihrer Zeit von zu Hause aus arbeiten. Eine enorme Verschiebung. Denn vor Beginn der Krise lag der Anteil der Beschäftigten, die regelmäßig im Homeoffice arbeiteten, bei gerade einmal zehn Prozent.
Die Ergebnisse des DAK-Reports decken sich in vielen Punkten mit Arbeiten anderer Forscher, etwa des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI), des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) oder des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB). Fazit: Homeoffice ist in Zukunft nicht mehr wegzudenken. Es hat eine Reihe schlagender Vorteile. Die Produktivität leidet in der Regel nicht – das sagen Arbeitnehmer und Arbeitgeber in den Untersuchungen unisono. Privatleben und Beruf lassen sich oft besser in Einklang bringen, nicht zuletzt durch das Ende der lästigen Pendelei. Die Arbeitszeiten lassen sich oft flexibler gestalten, was bei der Betreuung von Kindern oder der Pflege von Angehörigen eine große Hilfe sein kann. Doch je mehr die ursprünglich als Ausnahme gedachte Situation sich verfestigt, desto deutlicher treten auch die Nachteile hervor:
● Gesundheit Im Corona-Jahr 2020 fielen so viele Krankheitstage wegen Rückenschmerzen an wie seit Jahren nicht mehr. Das hat die DAK bereits in einer Auswertung von Anfang dieses Jahres festgestellt. Psychische Erkrankungen erreichten sogar einen neuen Höchststand: Sie waren der zweitwichtigste Grund für eine Krankschreibung. „Durch Lockdown und Homeoffice hat sich die Arbeitswelt drastisch gewandelt.
Die Menschen verharren noch länger bewegungslos vor dem Bildschirm und in vielen Branchen steigt die Arbeitsdichte. Wir sehen eine höhere Anspannung im Allgemeinen, was offensichtlich zu einer Zunahme von Fehltagen wegen Rückenschmerzen und bestimmten psychischen Diagnosen führt“, sagt DAK-Chef Andreas Storm. Insgesamt gab es vergangenes Jahr zwar weniger Krankschreibungen, aber die Fälle dauerten deutlich länger.
Ein Grund dafür dürfte in der häufig immer noch mangelhaften Ausstattung nicht nur in Sachen IT, sondern vor allem auch in Bezug auf ergonomische Arbeitsmöbel liegen. Ein gutes Drittel der Beschäftigten im Homeoffice arbeitete noch im Oktober 2020 überwiegend am Essoder Küchentisch. Viele haben einfach nicht den Platz, um ein eigenes Arbeitszimmer einzurichten, heißt es in einem aktuellen IAB-Kurzbericht. Nach den Daten der DAK stellen zwar mittlerweile 69 Prozent der Arbeitgeber einen Laptop zur Verfügung – aber nur acht Prozent kümmern sich auch um Büromöbel.
● Familie Die flexiblere Zeiteinteilung im Homeoffice ist für viele Beschäftigte ein zweischneidiges Schwert. Familie und Beruf lassen sich besser vereinbaren. Aber weil sich viele Dinge auch außerhalb der üblichen Büroarbeitszeiten erledigen lassen, verschwimmen die Grenzen von Beruf und Privatleben. Das gewerkschaftsnahe WSI schreibt, laut einer Befragung seien 60 Prozent der Heimarbeiter länger erreichbar. 76 Prozent der Befragten gelinge es immerhin, ihre üblichen Arbeitszeiten einzuhalten. Gegensteuern ließe sich dieser Entwicklung, die zu einer schlechteren Erholung und mehr Stress führen kann, demnach am besten durch betriebliche Vereinbarungen.
Wenig überraschend ist die Arbeitszeit im Homeoffice vor allem bei jenen Personen entgrenzter, die parallel Kinder betreuen oder Angehörige pflegen müssen. Die Befragung, die vom WSI ausgewertet wurde, zeigt, dass Erwerbstätige mit so einer Doppelbelastung die Arbeit von zu Hause aus als anstrengender empfinden als im Büro.
● Karriere Eine laut IAB nicht immer unbegründete Sorge vieler Beschäftigten ist es, Karrierechancen zu verpassen, wenn sie dauerhaft nicht im Betrieb sind. Konkret haben viele Angst vor Stigmatisierung im Kollegenkreis und dem Verpassen wichtiger Informationen. Netzwerke knüpfen sich besser im direkten Gespräch, in der Kaffeeküche erfährt man meist mehr Interna als in Videokonferenzen. Oder man kann schlicht beobachten, wer mit wem zusammensteht. In bestehende Zirkel aufgenommen werden, ist aus der Ferne kaum möglich.
Wenn dann auch noch ein weinendes Kind in die Videokonferenz hereinplatzt, könnte ein wichtiges Projekt auch an einen Kollegen gehen, weil die Führungskraft Sorge hat, man könnte sonst überlastet sein. Drei Viertel der Befragten im DAK-Panel sagen, ihnen fehle der direkte Kontakt zu den Kollegen. 28 Prozent der Beschäftigten, deren Tätigkeit im Homeoffice zu erledigen wäre, nehmen diese Möglichkeit gar nicht wahr. Bezogen auf alle Beschäftigten sind es neun Prozent, die nicht ins Homeoffice wechseln, obwohl der Arbeitgeber dies ermöglicht. Das Ifo-Institut hat für Oktober 2020 sogar einen entsprechenden Wert von 14 Prozent ermittelt.
● In der Krise sparen viele Unternehmen zuerst im Bereich der Weiterbildungen. Bernhard Seidl, Geschäftsfeldleiter Weiterbildung Technik und Wirtschaft in der IHK Akademie Schwaben, sagt, in der Pandemiesituation komme erschwerend hinzu, dass für viele Bereiche digitale Formate kaum umzusetzen seien: „Seminare zum Thema Persönlichkeit, Kommunikation oder Führung etwa funktionieren besser analog.“Soziales Lernen und der Austausch mit anderen Kursteilnehmern seien für Dozenten digital nur schwer zu organisieren. Mittelfristig führe die aktuelle Zurückhaltung im gesamten Weiterbildungsmarkt zu großem Nachholbedarf. Besonders dramatisch ist der Schulungsstau im Handwerk. Die Fort- und Weiterbildung ist dort naturgemäß sehr technisch und praxisorientiert. Viele Praxiskurse mussten laut Handwerkskammer Schwaben abgesagt, Prüfungen verschoben werden – mit teils schwerwiegenden Folgen für den Karriereweg der Betroffenen.
● Bereits vor der Krise war mobiles Arbeiten in vielen Unternehmen etabliert. Im Gegenzug verkleinerten vor allem große Unternehmen ihre Büroflächen. Wer in Präsenz arbeiten wollte, bekam einen Schreibtisch – aber nicht immer denselben. Der Trend dürfte sich nun verfestigen. Siemens hat etwa im Juli 2020 festgelegt, dass zwei bis drei Tage mobiles Arbeiten pro Woche das neue weltweite Standardarbeitsmodell sein soll. Gewerkschafter wie IG-Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban rechnen mit weiteren Versuchen, das Homeoffice zur Produktivitätssteigerung zu nutzen, Stichwort: Aktivierung von Lohnkostendifferenzen.
Ob Beschäftigte ihr Homeoffice im Nachbarort haben oder auf einem anderen Kontinent ist prinzipiell egal. Urban schreibt in einem Beitrag der Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik, die Ausweitung des Homeoffice könnte sich „als Probelauf für eine neue Welle des Outsourcings von Arbeitsplätzen erweisen“. Auch die Analyseabteilung der Deutschen Bank schreibt in einem Papier, dass bestimmte Prozesse an externe Plattformen oder Zeitarbeiter vergeben werden könnten. Andererseits könnten Fachkräfte aber auch für weiter entfernte Unternehmen arbeiten, ohne umziehen zu müssen.