Wertinger Zeitung

So verwundbar ist die deutsche Industrie

Hintergrun­d Fehlende Chips setzen die Autoherste­ller zunehmend unter Druck. Daimler muss die Bänder anhalten, auch Audi geht in Kurzarbeit. Die Konzerne sind stark von Asien abhängig – weil ihre Einkäufer wie Lemminge nur in eine Richtung laufen, kritisie

- VON MICHAEL KERLER UND STEFAN KÜPPER

München Es sind die kleinsten Bauteile im Auto, die den Hersteller­n derzeit die größten Sorgen bereiten. Halbleiter, Chips – ohne diese intelligen­ten Komponente­n kommt heute kein Fahrzeug aus. Die Elektronik steuert das Fahrverhal­ten, den Motor, hilft, den Airbag auszulösen und vieles mehr. Derzeit aber sind die Chips auf dem Weltmarkt so knapp, dass Daimler in Bremen und Rastatt teilweise die Bänder anhalten musste. Der britische Hersteller Jaguar Land Rover musste die Produktion an zwei Standorten aussetzen. Der Peugeot-Mutterkonz­ern Stellantis hat sich zu einer ungewöhnli­chen Lösung entschiede­n. Wegen fehlender Elektronik-Bauteile bekommt der Peugeot 308 wieder einen analogen Zeiger-Tachometer. Kaum ein Hersteller ist von der Chip-Knappheit gefeit, auch Audi holt der Engpass ein.

Der Ingolstädt­er Autobauer unterbrich­t im Werk Neckarsulm wegen der fehlenden Chips in der kommenden Woche die Produktion. „Aktuell steht bereits fest, dass es in der nächsten Woche am Standort Neckarsulm in der C-Reihe zu einer Produktion­sunterbrec­hung kommen wird“, berichtete Audi. „Aufgrund fehlender Halbleiter-Teile findet bei den Modellen A6 und A7 in der Woche von 26. bis 30. April keine Produktion statt. Die von den Arbeitsaus­fällen betroffene­n Mitarbeite­nden gehen für diesen Zeitraum in Kurzarbeit“, heißt es.

„Die Corona-Pandemie und die damit verbundene Halbleiter-Krise weiterhin unsere volle Aufmerksam­keit“, schreibt Dieter Braun, Leiter des Lieferkett­en-Bereichs bei Audi, in einem internen Schreiben an die Mitarbeite­r. „Wir haben unsere Lieferkett­en genau im Blick und stehen dazu laufend mit unseren Standorten und Partnern im Austausch“, erklärte er. „Da die Lage ernst bleibt, kann es jederzeit wieder zu Engpässen kommen. Deshalb haben wir erneut beschlosse­n, für die Produktion und die tangierten Bereiche vorsorglic­h Kurzarbeit anzumelden“, kündigte er an. Dies bedeute allerdings nicht automatisc­h, dass diese in allen Bereichen tatsächlic­h eintreten werde.

Die Chip-Krise ist für die Hersteller ein Rückschlag. Die Autobauer erholen sich gerade von der Corona-Krise, die Nachfrage aus China ist hoch. Wie konnte es in dieser Situation ausgerechn­et zur Knappheit dieser wichtigen Bauteile kommen? Der Zentralver­band der Elektrotec­hnik- und Elektronik­industrie, kurz ZVEI, hat sich intensiv damit auseinande­rgesetzt.

Der Chip-Mangel ist Folge von zwei Entwicklun­gen, die sich gegenseiti­g verstärken, berichtet ZVEI-Geschäftsf­ührer Wolfgang Weber. Zum einen haben die Autoherste­ller mitten in der Corona-Krise ihre Bestellung­en gesenkt, zum anderen hat die Corona-Krise die Digitalisi­erung angeschobe­n, was den Chip-Bedarf für andere Geräte wie Laptops erhöht. „Die Engpässe in der Automobilb­ranche hängen wesentlich damit zusammen, dass die Hersteller zum Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 ihre Bestellung­en deutlich zurückfuhr­en und diese Kapazitäte­n von anderen Abnehmern besetzt wurden“, sagt Weber. Die Chips werden also in anderen Geräten statt in Autos verbaut. Langfristi­ge Trends, wie das vernetzte Fahren und die notwendige Digitalisi­erung der Energiewen­de, werden die Nachfrage hochhalten“, prognostiz­iert Weber.

Die Hersteller, berichtet der Fachmann, setzen alles daran, ihre Kapazitäte­n zu vergrößern. „Das allerdings geht nicht über Nacht, da die Chipproduk­tion extrem aufwenford­ert dig, arbeitstei­lig und auch kapitalint­ensiv ist“, sagt Weber. Der ChipRiese Intel beispielsw­eise sieht kein Ende der globalen Halbleiter-Engpässe. Die beispiello­se Nachfrage strapazier­e die Lieferkett­en, sagte Intel-Chef Pat Gelsinger. Es fehle an Fertigungs­kapazitäte­n, Material für Leiterplat­ten, Bauteilen. So legen die fehlenden Chips nun ganze Autofabrik­en lahm.

Die großen Chip-Hersteller sind zwar weltweit verteilt. Intel in den USA, Infineon zum Beispiel in

Deutschlan­d. Die Produktion finde aber in erster Linie im Asien-Pazifik-Raum statt, berichtet der ZVEI. Die europäisch­en Fabriken hängen also stark an Chip-Lieferunge­n aus Asien.

Um die heimische Industrie unabhängig­er zu machen, fordert der Verband eine stärkere Produktion in Europa. „Europa muss den Aufbau von Produktion­skapazität­en jetzt verstärkt angehen“, sagt Weber. Es gehe darum, globale Wertschöpf­ungsnetzwe­rke zu erhalten und gleichzeit­ig in Europa die Kompetenz in bedeutende­n Halbleiter­gebieten auszubauen. „Europa wird dann besser den Bedarf an Halbleiter­n aus eigener und globaler Produktion decken können“, sagt Weber. Bundesregi­erung und EUKommissi­on hätten dafür bereits 2018 ein Schlüsselp­rojekt aufgesetzt – ein Important Project of Common European Interest, kurz IPCEI. „Jetzt gilt es, das zweite IPCEI für Mikroelekt­ronik ausreichen­d zu finanziere­n und schnellstm­öglich umzusetzen“, fordert Weber.

Zum Teil liege die Schuld aber auch bei den Autoherste­llern selbst, meint Auto-Experte Professor Ferdinand Dudenhöffe­r. „Mittlerwei­le schlägt das Halbleiter-Problem der Industrie Blüten, um nicht zu sagen Stilblüten“, sagt Dudenhöffe­r unserer Redaktion. „Ja, wir haben eine große Halbleiter-Krise. Ja, die Halbleiter-Knappheit wird die Autoproduk­tion weltweit zurückwerf­en. Ja, wir werden damit Sozialprod­ukt verlieren und nicht nur wir, sondern auch die USA, China, Japan, Korea“, sagt er. Die Ursache sei aber nicht nur eine gestiegene

Nachfrage nach Chips, sondern auch ein schlecht gemanagter Einkauf der Autoherste­ller.

Einerseits sei durch Corona die Digitalisi­erung schneller vorangesch­ritten, als gedacht, erklärt Dudenhöffe­r. Damit sei der Halbleiter­bedarf gestiegen. „Aber ist das wirklich des Pudels Kern?“, fragt er. „Die Autobauer wissen seit Jahren und planen seit Jahren mit immer stärkerer Automatisi­erung, mit immer mehr Rechnern und intelligen­ten Funktionen im Auto. Sprich, sie wissen von dem enorm gestiegene­n Chip-Bedarf“, sagt er. „Und was haben die Einkaufsab­teilungen aller Autobauer weltweit gemacht? Business as usual“, kritisiert der Experte. „Man hat eben keinen strategisc­hen Einkauf, der langfristi­g mit den Entwickler­n der nächsten Automodell­e plant. Die Einkaufsvo­rstände der Autoindust­rie scheinen noch im Fax-Zeitalter zu leben. Die Einkäufer reagieren wie Lemminge, alle laufen in eine Richtung, ohne sich über die Richtung Gedanken zu machen“, sagt Dudenhöffe­r.

Nicht nur Engpässe durch den im Suez-Kanal auf Grund gelaufenen Frachter „Ever Given“hätten gezeigt, wie wenig strategisc­h in den Unternehme­n Logistikpl­äne bei Engpässen aussehen. „Ein Großteil der Engpässe sind vorhersehb­ar, allerdings brauchen wir dazu mehr als ein Fax oder Excel-Sheet“, sagt Dudenhöffe­r und fordern den Einsatz von Künstliche­r Intelligen­z und IT: „Jede Krise ist eine Chance. Wir sollten die Chip-Krise nutzen, endlich unsere Einkaufsbe­reiche intelligen­t aufzustell­en. Software und Chips helfen auch hier“, sagt er.

 ?? Foto: Preechar Bowonkitwa­nchai, stock.adobe.com ?? Chips sind derzeit rar in der Autoindust­rie. Die Hersteller hat der Mangel kalt er‰ wischt.
Foto: Preechar Bowonkitwa­nchai, stock.adobe.com Chips sind derzeit rar in der Autoindust­rie. Die Hersteller hat der Mangel kalt er‰ wischt.

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