Heinrich Mann: Der Untertan (46)
Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut schen Kaiserreich um 1900 zu einem intriganten und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogramm eines Nationalisten.
Aber da er die mitfühlende Miene des andern sah, erweichte er sich vollends. „Ihnen kann ich es sagen, Herr Landgerichtsrat, die Sache mit dem Herrn Lauer ist mir verdammt unangenehm.“
„Ihm noch mehr“, sagte Fritzsche, nicht ohne Strenge.
„Wenn bei ihm nicht jeder Fluchtverdacht ausgeschlossen wäre, hätten wir ihn gleich heute verhaften lassen müssen.“Er sah Diederich erbleichen und fügte hinzu: „Was sogar uns Richtern peinlich gewesen wäre. Schließlich ist man Mensch und lebt unter Menschen. Aber natürlich…“Er befestigte seinen Klemmer und machte sein trockenes Gesicht.
„Das Gesetz muß befolgt werden. Wenn Lauer an dem betreffenden Abend – ich selbst hatte das Lokal ja schon verlassen – tatsächlich die unerhörten Majestätsbeleidigungen geäußert hat, die von der Anklage behauptet werden und für die Sie als Hauptzeuge aufgestellt sind.“
„Ich?“Diederich fuhr verzweifelt
auf. „Ich habe nichts gehört! Kein Wort!“
„Dagegen spricht Ihre Aussage vor dem Ermittelungsrichter.“
Diederich verwirrte sich. „Im ersten Moment weiß man doch nicht, was man sagen soll. Aber wenn ich mir den fraglichen Vorgang jetzt rekonstruiere, dann scheint es mir doch; daß wir alle ziemlich stark angeheitert waren. Ich besonders.“
„Sie besonders“, wiederholte Fritzsche.
„Ja, und da habe ich wohl anzügliche Fragen an Herrn Lauer gestellt. Was er mir darauf geantwortet hat, das könnte ich jetzt nicht mehr beschwören. Das Ganze war doch überhaupt nur ein Scherz.“
„Ach so: ein Scherz.“Fritzsche atmete auf. „Ja, aber was hindert Sie denn, das einfach dem Richter zu sagen?“Er erhob den Finger.
„Ohne daß ich natürlich im geringsten Ihre Aussage beeinflussen möchte.“
Diederich erhob die Stimme.
„Dem Jadassohn vergeß ich den Streich nicht!“Und er berichtete die Machenschaften dieses Herrn, der sich während der Szene vorsätzlich entfernt habe, um nicht als Zeuge in Betracht zu kommen; der dann sofort Material für die Anklage gesammelt, den halb unzurechnungsfähigen Zustand der Anwesenden mißbraucht und sie von vornherein festgelegt habe mit ihren Aussagen. „Herr Lauer und ich, wir halten einander für Ehrenmänner. Wie untersteht sich so ein Jude, uns zu verhetzen!“
Fritzsche erklärte ernst, daß hier nicht Jadassohns Persönlichkeit in Betracht komme, sondern nur das Vorgehen der Staatsanwaltschaft. Freilich war zuzugeben, daß Jadassohn vielleicht zum Übereifer neigte. Mit gedämpfter Stimme setzte er hinzu: „Sehen Sie, das ist eben der Grund, weshalb wir mit den jüdischen Herren nicht gern zusammen arbeiten. Solch ein Herr legt sich nicht die Frage vor, welchen Eindruck es auf das Volk machen muß, wenn ein gebildeter Mann, ein Arbeitgeber, wegen Majestätsbeleidigung verurteilt wird. Sachliche Bedenken verschmäht sein Radikalismus.“
„Sein jüdischer Radikalismus“, ergänzte Diederich.
„Er stellt unbedenklich sich selbst in den Vordergrund womit ich keineswegs leugnen will, daß er auch ein amtliches und nationales Interesse wahrzunehmen glaubt.“
„Wieso denn?“rief Diederich. „Ein gemeiner Streber, der mit unsern heiligsten Gütern spekuliert!“
„Wenn man sich scharf ausdrücken will…“Fritzsche lächelte befriedigt. Er rückte näher. „Nehmen wir einmal an, ich wäre Untersuchungsrichter: es gibt Fälle, in denen man gewissermaßen Grund hätte, sein Amt niederzulegen.“
„Sie sind mit dem Lauerschen Hause eng befreundet“, sagte Diederich und nickte bedeutsam. Fritzsche machte sein weltmännisches Gesicht. „Aber Sie begreifen, damit würde ich gewisse Gerüchte ausdrücklich bestätigen.“
„Das geht nicht“, sagte Diederich. „Es wäre gegen den Komment.“
„Mir bleibt nichts übrig, als meine Pflicht zu tun, ruhig und sachlich.“
„Sachlich sein heißt deutsch sein“, sagte Diederich.
„Besonders, da ich annehmen darf, daß die Herren Zeugen mir meine Aufgabe nicht unnötig erschweren werden.“
Diederich legte die Hand auf die Brust. „Herr Landgerichtsrat, man kann sich hinreißen lassen, wo es um eine große Sache geht. Ich bin eine impulsive Natur. Aber ich bleibe mir bewußt, daß ich für alles meinem Gott Rechenschaft schulde.“Er schlug die Augen nieder. Mit männlicher Stimme: „Auch ich bin der Reue zugänglich.“Dies schien Fritzsche zu genügen, denn er zahlte. Die Herren schüttelten einander ernst und verständnisvoll die Hände. Schon am Tage darauf ward Diederich vor den Untersuchungsrichter geladen und stand vor Fritzsche. ,Gott sei Dank‘, dachte er und machte mit treuherziger Sachlichkeit seine Aussagen. Auch Fritzsches einzige Sorge schien die Wahrheit zu sein. Die öffentliche Meinung freilich blieb bei ihrer Parteilichkeit für den Angeklagten. Von der sozialdemokratischen „Volksstimme“nicht zu reden; sie verstieg sich bis zu höhnischen Auslassungen über Diederichs Privatleben, hinter denen wohl sicher Napoleon Fischer zu suchen war. Aber auch die sonst so ruhige „Netziger Zeitung“gab gerade jetzt eine Ansprache des Herrn Lauer an seine Arbeiter wieder, worin der Fabrikbesitzer darlegte, daß er den Gewinn seines Unternehmens redlich mit allen denen teile, die daran mitgearbeitet hatten, ein Viertel den Beamten, ein Viertel den Arbeitern. In acht Jahren hatten sie außer ihren Löhnen und Gehältern die Summe von hundertdreißigtausend Mark unter sich zu verteilen gehabt. Dies machte auf weite
Kreise den günstigsten Eindruck. Diederich begegnete mißbilligenden Gesichtern. Sogar der Redakteur Nothgroschen, den er zur Rede stellte, erlaubte sich ein anzügliches Lächeln und sagte etwas von sozialen Fortschritten, die man mit nationalen Phrasen nicht aufhalte. Besonders peinlich waren die geschäftlichen Folgen. Bestellungen, auf die Diederich rechnen durfte, blieben aus. Der Warenhausbesitzer Cohn teilte ihm ausdrücklich mit, daß er für seine Weihnachtskataloge die Papierfabrik Gausenfeld bevorzuge, weil er mit Rücksicht auf seine Kunden sich politische Zurückhaltung auferlegen müsse. Diederich erschien jetzt ganz früh im Büro, um solche Briefe abzufangen, aber Sötbier war immer noch früher da, und das vorwurfsvolle Schweigen des alten Prokuristen erhöhte seine Wut. „Ich schmeiß den ganzen Krempel hin!“schrie er. „Sie und die Leute sollen dann sehen, wo sie bleiben. Ich mit meinem Doktor hab morgen einen Direktorposten von vierzigtausend Mark!“
„Ich opfere mich für euch!“schrie er die Arbeiter an, wenn sie gegen das Reglement Bier tranken. „Ich zahle drauf, nur um keinen zu entlassen.“Gegen Weihnacht mußte er dennoch einem Drittel der Leute aufsagen.