Eine Krankheit wie ein Gefängnis
Schicksal Frederik Suter leidet seit seiner Jugend daran, dass Tumore nach und nach seine Nerven zerstören. Doch der 35-jährige Würzburger gibt den Kampf um sein Leben nicht auf.
Würzburg Im Flur hängt eine überdimensionale Weltkarte. Darauf kleben viele kleine durchnummerierte Punkte. Alles Ziele, die Frederik Suter in seinen 35 Lebensjahren bereist hat: immer wieder England, wo er Spanisch studierte, Barcelona, Gran Canaria, San Francisco. Einer der Höhepunkte war die Rundreise mit einem Freund quer durch Kuba. Damals war der Würzburger bereits vollständig ertaubt und auf einen Rollator angewiesen, auf den er seinen Koffer schnallte. Auch sein Freund war ertaubt. Mutig? „Das ist auch nicht mutiger, als ohne Spanisch-Kenntnisse dorthin zu reisen“, sagt Frederik Suter und grinst.
Seit seinem 17. Lebensjahr kämpft er mit der seltenen Krankheit – mit Neurofibromatose Typ 2 (NF2). NF2-Betroffene bekommen gutartige Tumore, die immer wiederkehren, die auf den Nerven wachsen und irreparable Schäden verursachen. Sie können aber auch wie kleine Knötchen einfach unter der Haut entstehen. Suter kann viele davon zeigen. Fast immer sind Gehörund Gleichgewichtssinn von der Krankheit betroffen, oft Gesichtsnerven. Auch das Rückenmark kann befallen werden, was zu einer Querschnittslähmung führen kann. Oft kommt es zudem zu Eintrübungen des Augenlichts.
Mit 16 Jahren noch war der Würzburger nicht anders als andere Jugendliche in diesem Alter. Er verbrachte seine Freizeit bevorzugt auf Bolzplätzen, begann sich für Mädchen zu interessieren und machte seine ersten Erfahrungen mit Alkohol. Nur dass er manchmal schlecht hörte und immer öfter Gleichgewichtsprobleme hatte, das machte seinen Eltern Sorgen: „Trinkt der Junge zu viel Alkohol?“
Nachdem der HNO-Arzt nichts finden konnte, aber durchaus eine verminderte Hörfähigkeit attestierte, begann die Suche nach der Ursache.
Mit 17 bekam Suter die Diagnose: Neurofibromatose Typ 2 – eine angeborene Krankheit, die durch einen Gendefekt verursacht wird. Und nicht heilbar ist.
Um zu überleben, müssen bei NF2-Patienten immer wieder Tumore operativ entfernt werden. Inzwischen nennt Suter Krankenhäuser sein zweites Zuhause. Zwei- bis dreimal im Jahr muss er unters Messer. Jedes Mal mit der Ungewissheit, dass es ihm danach sogar schlechter gehen kann. „Nerven heilen langsam“, sagt er, „wenn überhaupt“.
So teilt Frederik Suter sein Leben in zwei Teile. Nicht vor und nach der Diagnose, denn als 17-Jähriger habe er dieses „Neurodings“zunächst nicht sonderlich ernst genommen.
Es war die erste Operation, die sein Leben auf den Kopf stellte. Erstmalig sollten Tumore entfernt werden, damit sie nicht weiter die Nerven seines Gehörs zerquetschen und er völlig ertaubt. Genau das aber geschah dann in den Tagen nach der Operation. Zudem hatten sich seine Gleichgewichtsstörungen verstärkt, Schluckbeschwerden kamen dazu. Die Krankheit hatte sich mit ihrer ganzen Brutalität in seinem Körper breitgemacht.
Erst später erfuhr er, dass er bei dieser Operation, die über elf Stunden dauerte, fast gestorben wäre. Tagelang lag er im Koma, seine Eltern und Geschwister bangten um sein Leben. Als ein paar Jahre später wieder eine dieser großen Operationen anstand, zögerte Suter die Entscheidung lange hinaus. Bis er merkte, dass dieses Warten, diese Unsicherheit ihn Tag und Nacht beschäftigte und stark belasten würde. Also schrieb er sein Testament, gab Instruktionen für seine Trauerfeier und vereinbarte den OP-Termin. Immer wieder kämpfte sich der in sein Leben zurück – und nahm nach anfänglichem Hadern sein Schicksal an. Darauf ist er heute ein wenig stolz. Nie habe er gefragt: „Warum ich?“. Nie habe er gegen sein Schicksal gekämpft, „ich nahm es einfach mit in meinen Kampf gegen die Krankheit, für eine Heilung“.
Dabei helfen ihm vor allem sein Humor, seine Selbstironie und die kleinen Streiche, die er seinen Mitmenschen gerne spielt und über die er herzhaft lachen kann. Am liebsten aber lacht er über sich selbst oder bringt andere zum Lachen: „Das war und ist mein Lebenselixier. Könnte ich normal reden, ich wäre ein Comedian.“
Natürlich setzt die heimtückische Krankheit ihm heftig zu. Der Verlust des Hörens erschwert jegliche Kommunikation. Manchmal beneide er ein wenig die von Geburt an Gehörlosen, sagt Suter. Weil sie gar nicht wüssten, wie es ist, zu hören. Er hat seine CD-Sammlung zwar weggeräumt, hofft aber nach wie vor, sie einmal wieder hervorkramen zu können. Die Erinnerung ans Hören, die tue ihm weh, sagt Suter. Missen aber möchte er sie nicht: „Zu hören ist ein unglaublich großer Schatz.“
Lange habe er sich nirgends zugehörig gefühlt, schildert der 35-Jährige: weder zu den Gehörlosen noch zu den Hörenden. Inzwischen habe er auch Freunde unter den gehörlos Geborenen. Gebärdensprache sei für ihn die beste Art zu kommunizieren. Sie sei nicht nur direkter, sondern auch authentischer, lebhafter und emotionaler und komme seiWürzburger nem Charakter sehr gelegen. Doch die wenigsten beherrschen die Gebärdensprache, sie ist weit von der Gesellschaft entfernt. Zwar habe er inzwischen eine Spracherkennung auf dem Tablet, sagt Suter. Da er aber selbst aufgrund einer Lähmung der Stimmbänder ständig heiser sei, nur sehr leise und mit Beschwerden sprechen könne, sei Kommunikation ohne Gebärden für ihn sehr anstrengend. Small-Talk sei praktisch gar nicht möglich, nur wenige ließen sich darauf ein. Auch der Hinweis, er sei taub, komme oft gar nicht an. Einige würden dann lauter reden oder einfach ganz normal weitersprechen. Da frage er sich manchmal schon: „Hallo, wer ist denn hier taub?“
So sei er oft einsam, auch wenn er nicht allein ist. Depressive Phasen gehörten zu dieser Krankheit einfach dazu, sagt Suter. Es gebe diese Phasen, in denen er sich wünsche, endlich aus diesem Gefängnis befreit zu sein. Dass die Krankheit wie ein Gefängnis sei, habe ihm der Besuch der Gefängnisinsel Alcatraz vor San Francisco klar gemacht. Dort blieb er lange vor einer Tafel mit der Inschrift eines Gefangenen stehen: „Du weißt, da draußen ist die Freiheit, du siehst sie sogar. Kein Tag vergeht, wo Du nicht von ihr träumst.“Irgendwann, ist Frederik Suter sicher, sei auch er wieder frei: „Solange hole ich mir jedes Stück Freiheit, das ich kriegen kann, eben selbst.“
Inzwischen würde er sogar so weit gehen, zu sagen, dass die Krankheit sein Leben auch mit Sinn erfüllt habe. Sie sei zwar nach wie vor – wie er etwas drastisch schildert – „ein großes Arschloch“, habe ihm aber auch so manche Türen aufgestoßen. Im Spanischen hätten Glück und Schicksal das gleiche Wort: „Suerte“. Und so nannte Frederik Suter seine 2015 erschienene Autobiografie auch „Suerte oder der Teufelskreis des Glücks“. In diesem Buch lässt Suter seine Leserinnen und Leser auf 144 Seiten an seinem Schicksal teilhaben. Auch seine Eltern und Geschwister beschreiben darin ihren Umgang mit der Krankheit. Ohne den großen Zusammenhalt der ganzen Familie hätte er es nicht geschafft, ist sich Frederik Suter heute sicher. Sein Leben mit NF2 aufzuschreiben, sei ein ungemein befreiendes Gefühl gewesen.
Inzwischen ist Frederik Suter nicht nur Autor, sondern auch Herausgeber dreier weiterer Bücher. Nach den einschneidenden Erlebnissen der ersten Operation suchte er den Kontakt zur NF2-Selbsthilfegruppe. Nicht einfach zunächst – sah er doch, was die Krankheit alles anrichten kann. Die Begegnung mit anderen Erkrankten – ein Blick in die eigene Zukunft. Doch die Selbsthilfegruppe wurde schnell zu einer zweiten Familie. Hier traf der
Jedes Mal quält die Ungewissheit
Lebensmut schöpft er aus der Gemeinschaft
Würzburger Menschen, die ihn sehr gut verstehen konnten, hier fand er einige seiner besten Freunde.
Aus dem Wunsch, der Gruppe etwas zurückgeben zu wollen, entstand die Idee, andere Betroffene zum Schreiben zu ermutigen. „Ich wollte auch anderen die Chance auf dieses befreiende Gefühl geben“, sagt Frederik Suter. Drei Bände sind inzwischen erschienen. In „Wir – unser Leben mit NF2“und „Wir alle und NF2“schreiben auch Ärztinnen und Therapeuten, wie sie mit Patienten Lösungen entwickeln, um deren Situation lebenswert zu gestalten.
Und Suter selbst, hat er einen Rat für von NF2 oder anderen schweren Krankheiten betroffenen Menschen? „Denen brauche ich keinen Rat zu geben, das sind alles Kämpfer“, sagt der 35-Jährige. Und fügt hinzu: „Aber alle anderen sollten dankbar und bescheiden sein und jeden Tag das wertschätzen, was sie haben. Vor allem aber, das Leben nicht so ernst nehmen.“