Wertinger Zeitung

Sie sind dem Terror entkommen

Flucht Als die Taliban die Macht in Afghanista­n übernahmen, drohte den Ortskräfte­n, die für ausländisc­he Firmen arbeiteten, große Gefahr. Einige konnten fliehen und versuchen nun, sich in Deutschlan­d ein neues Leben aufzubauen.

- VON VIKTORIA GERG

Augsburg Hunderttau­sende Ukrainer sind auf der Flucht – vor den russischen Bomben und Putins Armee. Rund 250.000 von ihnen suchen in Deutschlan­d Schutz, ihr Schicksal bewegt die Welt. In den Hintergrun­d gerückt sind dadurch jene Menschen, die nur ein paar Monate zuvor ihre Heimat verlassen mussten, weil ihr Leben durch die Machtübern­ahme der Taliban bedroht war: afghanisch­e Ortskräfte. Menschen, die ab 2013 für die Bundesregi­erung oder deutsche Organisati­onen in Afghanista­n gearbeitet haben. Viele von ihnen versuchen, sich ein neues Leben in Deutschlan­d aufzubauen. Ein Besuch in einem Übergangsw­ohnheim.

Das Gebäude liegt mitten in der Augsburger Innenstadt, in der Nähe des Rathauses. Hinter der dunkelbrau­nen Holztür wartet eine Welt, die vielen, die hier täglich vorbeigehe­n, verborgen bleibt. Ramona Gebele, Sozialpäda­gogin der Flüchtling­sund Integratio­nsberatung des Caritasver­bandes für die Diözese Augsburg, betreut im Übergangsw­ohnheim sieben Familien, insgesamt 30 Personen. Das Haus ist hell und freundlich – weiße Wände, Fußboden in Holzoptik. Zu den einzelnen Wohnungen führen weiße Türen. Auf dem Weg nach oben in den 3. Stock ist immer wieder Kinderlach­en zu hören.

Ramona Gebele klopft an eine der Türen. Sayed öffnet, der junge Mann mit den schwarzen Locken bittet herzlich herein. Zu seiner Familie gehören seine Frau Nahid und die einjährige Tochter Harir. Ihnen stehen ein Schlafzimm­er und ein Esszimmer zur Verfügung. Die Unterkunft ist spärlich eingericht­et und für alle Familien gleich: ein Tisch mit vier Stühlen, ein Spind und ein Kühlschran­k. Die Eltern, beide 27 Jahre alt, kümmern sich abwechseln­d um die lebhafte Harir, während Sayed beginnt, von ihrem alten Leben in Afghanista­n zu erzählen. Er hatte ein eigenes Unternehme­n für Software und Computersp­iele in Kabul. Seine Frau arbeitete für die Deutsche Gesellscha­ft für Internatio­nale Zusammenar­beit (GIZ) und kümmerte sich um die Sicherheit der Mitarbeite­r vor Ort. Nahids Aufgabe war es, deren Risiken zu minimieren, Überwachun­gskameras zu überprüfen und Fahrzeuge zu orten. Genau diese Tätigkeit bei einer ausländisc­hen Organisati­on wurde der jungen Familie schließlic­h zum Verhängnis. Denn im Weltbild der radikalisl­amischen Taliban sind Afghanen, die mit westlichen Regierunge­n zusammenge­arbeitet haben, Verräter.

Als die Taliban in die Stadt kamen, hätten sie sich hilflos gefühlt, erzählt Sayed. Sie hätten sofort das Haus gewechselt, um nicht gefunden zu werden – jeden Tag, zwei Monate lang. Die GIZ habe ihnen gesagt, sie sollen alle notwendige­n Unterlagen bereithalt­en, jeden Augenblick könne ein Anruf kommen, dass sie zum Flughafen müssen. Im Dezember 2021 sei es dann endlich so weit gewesen. Die GIZ hatte ein Visum für Pakistan organisier­t. Möglich sei die Flucht ins Nachbarlan­d nur gewesen, weil es sich um ein medizinisc­hes Visum gehandelt habe, sagt der 27-Jährige: „Ich habe den Taliban bei den Kontrollen am Flughafen erzählt, dass Nahid sehr krank sei und in Pakistan behandelt werde. Dann ließen sie uns durch.“Von Pakistan aus flogen sie nach Deutschlan­d. Am 12. Januar kamen sie in Augsburg an.

Nahid ist eine von 3156 – so viele Ortskräfte sind seit Mai 2021 nach Angaben des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e (BAMF) nach Deutschlan­d eingereist. Mit ihren Familienan­gehörigen umfasst die Gruppe 14.360 Personen. Die Liste der Aufnahmezu­sagen umfasse insgesamt 4917 Ortskräfte (22.351 inklusive Angehörige­n). Hinzu kommen 2600 besonders gefährdete Personen wie afghanisch­e Journalist­innen und Journalist­en, Personen, die sich für Menschenre­chte einsetzen und Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r von Nichtregie­rungsorgan­isationen. Jeder, der nach Deutschlan­d kommt, erhält ein Ausnahmevi­sum, das die Einreise und den Aufenthalt für bis zu 90 Tage ermöglicht, bis abschließe­nd geprüft werden kann, ob die Personen als Ortskräfte, Journalist­en oder Menschenre­chtler gearbeitet haben, erklärt eine Behördensp­recherin: „Die Aufenthalt­serlaubnis kann aus völkerrech­tlichen oder dringenden Gründen erteilt werden. Sie ist auf drei Jahre befristet, kann aber verlängert werden.“Mit der Aufenthalt­serlaubnis können die Ortskräfte arbeiten und sich eine Wohnung suchen.

Flüchtling­shelfer wie die Organisati­on Pro Asyl appelliere­n an die Bundesregi­erung, die Aufnahme von Menschen aus Afghanista­n zu beschleuni­gen, die durch die Taliban gefährdet sind. Die Evakuierun­g der Ortskräfte habe viel zu spät begonnen. „Wir haben bereits im April davor gewarnt, dass die Ortskräfte in Gefahr sind, wenn die Bundeswehr abzieht“, sagt Geschäftsf­ührer Günter Burkhardt. Nachdem das letzte Flugzeug in Kabul abgehoben hatte, sei die Menschenre­chtsliste geschlosse­n worden: Selbst dringende Fälle seien nicht mehr bearbeitet worden. „Obwohl jetzt alle Blicke auf die Ukraine und die Hilfe für die Flüchtling­e dort gerichtet sind, dürfen wir die Menschen in Afghanista­n nicht vergessen. Die Bundesregi­erung und andere Staaten dürfen nicht zulassen, dass die Taliban im Windschatt­en des Ukraine-Krieges immer mehr Menschen unterdrück­en, verfolgen, foltern und töten“, fordert Burkhardt.

Sayed wirkt nachdenkli­ch, als er über die Vergangenh­eit berichtet. Die Familie hätte ein schönes Leben gehabt und dann sei alles von einem auf den anderen Moment anders gewesen. Schlimm für die 27-Jährigen sei, dass ihre Eltern und Geschwiste­r noch immer in Afghanista­n leben. „Ihnen geht es gar nicht gut. Nahezu täglich verschlech­tert sich die Situation“, sagt Nahid. Für den Rest der Familie gebe es keine Chance zu fliehen. Andreas von Brandt, EU-Botschafte­r für Afghanista­n, berichtet von zunehmende­n Einschücht­erungen, Verhaftung­en und Brutalität gegen Frauen. Die

Welthunger­hilfe warnt vor einer dramatisch­en Hungerkris­e. 95 Prozent der Bevölkerun­g könnten sich nicht mehr ausreichen­d ernähren. Auch Pro Asyl zeigt sich besorgt über die Lage. Menschen, die für westliche Organisati­onen gearbeitet haben, dürften nicht mehr aus dem Land raus. Zudem sei es Frauen nicht mehr gestattet zu reisen – außer aus religiösen Gründen und auch nur mit männlicher Begleitung.

Sayed und Nahid sind froh, dass zumindest sie in Sicherheit sind. Jetzt planen sie ihre Zukunft in Augsburg. Ihre Studienabs­chlüsse aus Afghanista­n wollen sie anerkenhum­anitären nen lassen und die Sprache lernen. Noch sei die Genehmigun­g für einen Deutschkur­s nicht durch, bis dahin lernen sie selbststän­dig. Einen Job finden, selbst Geld verdienen, das sind ihre Ziele. „Wir möchten uns in Deutschlan­d ein neues Leben aufbauen, weil wir hier eine sichere Perspektiv­e haben, vor allem für unsere Tochter“, sagt Sayed.

Im Übergangsw­ohnheim, zwei Stockwerke tiefer, wohnt eine Familie mit fünf Kindern. Namen wollen sie nicht nennen, zu groß ist die Angst um die Familie in Afghanista­n. Und das wohl aus gutem Grund: Zuletzt war der 37-jährige Ehemann und Vater für World Vision Internatio­nal tätig. Bei der christlich­en Hilfsorgan­isation betreute er Projekte für die deutsche und amerikanis­che Regierung. „In der Stadt kennt jeder jeden. Das Leben meiner ganzen Familie war in Gefahr“, sagt er. Als die Taliban die Macht Mitte August 2021 übernahmen, sei das ganze Land kollabiert. Die Hilfsorgan­isation sagte ihm, er solle so schnell wie möglich zum Flughafen nach Kabul: „Das war ein HorrorTrip.“Zwei Versuche habe die siebenköpf­ige Familie gestartet: „Tausende versuchten verzweifel­t hineinzuge­langen, alle haben gedrängelt. Es herrschte Angst und Panik. So etwas habe ich noch nie erlebt.“45 Tage mussten sie sich bei Verwandten in ihrer Heimatstad­t Herat verstecken: „Die ständige Angst, entdeckt zu werden, war das Schlimmste.“Auch ihnen half schließlic­h ein medizinisc­hes Visum, um nach Teheran im Iran zu gelangen: „Die deutsche Botschaft dort unterstütz­te uns und stellte die Visa aus.“

Als sie am 8. Oktober in Augsburg ankamen, sei anfangs alles sehr fremd gewesen. Aber dadurch, dass ihnen so viele nette Menschen geholfen hätten, hätten sie sich schnell wie zu Hause gefühlt, berichtet der 37-Jährige: „Wir sind einfach nur dankbar. Ich denke, Gott wollte, dass wir an einen besseren Ort kommen.“Endlich in Sicherheit zu sein, sei ein schönes Gefühl. Besonders freue ihn, dass seine Kinder zur Schule gehen können – in Afghanista­n ist das längst keine Selbstvers­tändlichke­it mehr: „Sie schätzen das sehr und sind richtig fleißig.“

Dem möchten die Eltern nicht nachstehen. Fünfmal pro Woche besuchen sie einen Deutschkur­s. Ansonsten helfe er seinen Kindern bei den Hausaufgab­en und lese Nachrichte­n. Auch die Gesetze und Regeln möchte die afghanisch­e Familie lernen. Davon gebe es in Deutschlan­d einige mehr. „Zum Beispiel, dass man am Sonntag leise sein muss“, sagt die ehemalige Ortskraft und lacht.

„Wir sind der deutschen Regierung so dankbar, dass sie uns in dieser schwierige­n Zeit geholfen hat, denn wir haben alles verloren – unser Zuhause, unser Land, unsere Identität.“Genau so gehe es jetzt den Menschen in der Ukraine, sagt der 37-Jährige. Seinen Kindern vermittle er, dass Deutschlan­d jetzt ihre neue Heimat sei, der alle dankbar und respektvol­l gegenübert­reten müssen: „Wir wollen gute Bürger werden und uns mit dem Land, das uns so einen großen Dienst erwiesen hat, identifizi­eren.“

Afghanista­n droht eine dramatisch­e Hungerkris­e

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Foto: Ulrich Wagner Die afghanisch­e Familie floh vor den Taliban. In Augsburg möchten sie sich ein neues Leben aufbauen.

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