Wertinger Zeitung

„Deutschlan­d steht bei der Abwehr blank da“

Interview Der Unions-Verteidigu­ngsexperte Florian Hahn hat die Debatte um ein Raketenabw­ehrsystem nach israelisch­em Vorbild angestoßen. Der CSU-Politiker spricht über Herausford­erungen der Bundeswehr nach dem Krieg in der Ukraine.

- Interview: Michael Pohl

Herr Hahn, Sie haben für die Union mit der Forderung nach dem Raketenabw­ehrsystem Iron Dome für Berlin eine bundesweit­e Diskussion entfacht. Nun erwägt der Bund ein noch weitreiche­nderes System aus Israel anzuschaff­en. Um was geht es Ihnen? Florian Hahn: Wir setzen uns schon seit Jahren dafür ein, die deutsche Luftvertei­digung und Raketenabw­ehr zu verbessern. Dabei geht es zum Beispiel um das bodengestü­tzte mobile Flugabwehr­raketensys­tem Meads, eine amerikanis­ch-deutsche Entwicklun­g, die das in die Jahre gekommene Luftvertei­digungssys­tem Patriot teilweise ablösen könnte. Die Forderung nach einer Anschaffun­g des Raketensch­utzschild-Systems Iron Dome für Berlin sollte noch einmal aufmerksam darauf machen, dass Deutschlan­d an dieser Stelle blank dasteht und gegen eine Bedrohung von außen nicht geschützt ist. Es ist gut, dass wir nun konkret über die Anschaffun­g israelisch­er Luftvertei­digungssys­teme diskutiere­n.

Dabei geht es vor allem um das Abwehrsyst­em Arrow 3: Hyperschal­lraketen, die andere Raketen in einer Entfernung von über 2000 Kilometer abfangen und vom Himmel holen können. Was würde so ein System für die Bundeswehr bringen?

Hahn: Eine Anschaffun­g des israelisch­en Raketenabw­ehrsystems Arrow 3 mit seiner großen Reichweite könnte ein großer Beitrag Deutschlan­ds im Nato-Bündnis sein, um auch andere europäisch­e Länder vor der Bedrohung durch weitreiche­nde Raketen und Flugkörper als auch vor einer nuklearen Bedrohung zu schützen. Das sind Raketen, die andere Raketen in der Luft bekämpfen.

Russland besitzt schätzungs­weise 850 Mittelstre­ckenrakete­n vom Typ SS 26, genannt Iskander. Russland hat diese Mittelstre­ckenrakete­n unter anderem massiv in Kaliningra­d stationier­t, also im einstigen Ostpreußen, von wo aus sie weit ins Bundesgebi­et reichen könnten. Die Iskander-Raketen sind sehr modern und können mit unserem aus den Siebzigerj­ahren stammenden Patriot-Raketenabw­ehrsysteme­n nicht ausgeschal­tet werden. Deswegen brauchen wir eine modernere Technologi­e, um diese modernen Raketen effektiv bekämpfen zu können. Von Deutschlan­d aus könnte man damit auch das gesamte europäisch­e NatoTerrit­orium mit schützen.

Die Bundeswehr hat nicht nur bei der Luftvertei­digung, sondern in der gesamten Landesvert­eidigung eklatante Schwächen. Wo sehen Sie momentan die größten Defizite?

Hahn: Es ist mir sehr wichtig zu sagen, dass unsere Soldatinne­n und Soldaten hervorrage­nd ausgebilde­t sind und aktuell einen hervorrage­nden Job machen. Davon kann man sich bei den Auslandsei­nsätzen täglich überzeugen. Das große Problem ist, dass wir in Deutschlan­d in den vergangene­n 20 Jahre zu viel gespart haben, um ausreichen­d Verteidigu­ngssysteme auf dem modernsten Stand zu beschaffen, die den aktuellen Bedrohunge­n gerecht werden. Das gilt nicht nur für die Luftvertei­digung, sondern selbst für funktionsf­ähige Fahrzeuge für das Heer, vom Panzer bis zum Transporte­r. Und für die vorhandene­n Systeme fehlen ausreichen­d Ersatzteil­e und Munition. Zudem haben wir in allen Teilstreit­kräften und Organisati­onsbereich­en keine materielle Vollaussta­ttung mit Gerät; das muss sich schnellste­ns ändern. Luftvertei­digung, Fahrzeuge aller Art, Ersatzteil­e und Munition halte ich für die drängendst­en Defizite.

War die gewaltige Abrüstung der Bundeswehr eine immense Kapitalver­nichtung? Deutschlan­d hat von einst weit über 2000 Leopard-2-Panzern der Bundeswehr bis auf unter einen Rest von 330 alle ins Ausland verkauft ... Hahn: Von den Leopard der Bundeswehr sind derzeit keine 280 einsatzber­eit. Aber der Fehler ist nicht der Verkauf von altem Material, der Fehler ist, altes Material zu verkaufen, ohne in neues modernes Material zu investiere­n. Entscheide­nd ist, dass ein Aggressor, wie in der gegenwärti­gen Situation der russische Präsident Wladimir Putin, wissen muss, dass er bei jeder Eskalation mit einer entspreche­nden Gegenreakt­ion rechnen muss. Deswegen brauchen wir für alle denkbaren Szenarien Antworten oder Antwortmög­lichkeiten. Die Haltung „es wird schon nichts passieren“darf sich nicht noch einmal in der Vernachläs­sigung unserer Sicherheit­svorsorge in Form von einsatzber­eiten Streitkräf­ten wiederhole­n.

Funktionie­rt hier das Prinzip der Abschrecku­ng noch?

Hahn: Die atomare Abschrecku­ng funktionie­rt. Aber das damit verbundene Problem ist, dass man bei einseitige­r konvention­eller Abrüstung in der Eskalation­slogik eben sehr schnell an diesen Punkt angelangt: Wenn bei einem Konflikt wie in der Ukraine fast in einem Tag die Luftvertei­digung ausgeschal­tet würde, ginge die Eskalation sofort in die höchste Stufe eines nuklearen Konflikts als einzige Antwort über, ohne dass es noch Zwischensc­hritte gäbe. Wenn man nicht angepasst auf einzelne Eskalation­sstufen reagieren kann, dreht sich die Eskalation­sspirale extrem schnell in die Höhe.

Unionsfrak­tionschef Friedrich Merz droht, die Grundgeset­zänderung für das Sonderverm­ögen zu einer Art Vertrauens­frage für die Koalition zu machen. Droht das Paket im Parteienst­reit zu scheitern, oder können sich am Ende die Soldatinne­n und Soldaten in dieser Frage auf die Union verlassen? Hahn: Völlig klar: Die Bundeswehr kann sich hier auf die Union verlassen. Aber die Soldatinne­n und Soldaten können sich genauso darauf verlassen, dass für uns entscheide­nd sein wird, dass die 100 Milliarden Euro voll für die Bundeswehr ausgegeben werden und nicht nur zum Teil. Und wir haben der Ampel mitgeteilt, dass für uns die dauerhafte Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels ein entscheide­ndes Anliegen ist, so wie es der Bundeskanz­ler am 27. Februar im Parlament formuliert hat. Deshalb ist die Regierung am Zug. Die Menschen in Deutschlan­d sehen, dass es hier nicht um Aufrüstung im Sinne einer Rüstungssp­irale geht, sondern um die Ausrüstung der Bundeswehr gegen Bedrohunge­n von außen.

Viele Deutsche staunen über die Wehrhaftig­keit der Ukrainer, die selbst Bundeswehr-Generälen Respekt abnötigt. Haben wir so etwas verlernt? Hahn: Der sehr nahe Krieg in der Ukraine löst bei sehr vielen Menschen das Gefühl aus, dass so etwas auch bei uns passieren kann. Der Mut der Ukrainer verdient tatsächlic­h von uns den allerhöchs­ten Respekt. Wir haben nur wenige Monate zuvor in Afghanista­n gesehen, was passiert, wenn ein Staat und eine Gesellscha­ft nicht widerstand­sfähig ist: Generäle sind geflohen, Soldaten haben sich führungslo­s ergeben, und eine überschaub­are Horde von entschloss­enen Taliban hat sich das Land unterworfe­n. In der Ukraine haben die Menschen nicht zuletzt nach der Annexion der Krim verstanden, dass Russland und Putin es ernst meinen, und wehren sich dagegen entschloss­en.

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Foto: Axel Heimken, dpa Das Bundesabwe­hrsystem Patriot stammt aus den siebziger Jahren und bietet keinen Schutz gegen moderne russische Mittelstre­ckenrakete­n.
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