Wertinger Zeitung

Aus dem Leben einer jungen, starken Frau

Film II Audrey Diwan bringt Annie Ernauxs Roman „Das Ereignis“auf die Leinwand.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Anne (Anamaria Vartolomei) kommt aus einfachen Verhältnis­sen und ist die Erste in ihrer Familie, die ein Hochschuls­tudium aufnimmt. Im Frankreich des Jahres 1963 bekommt eine junge Frau wie sie nur selten die Möglichkei­t, den Beschränku­ngen ihrer sozialen Herkunft zu entfliehen. Aber die Literaturs­tudentin gehört zu den Besten im Jahrgang und träumt davon, selbst Schriftste­llerin zu werden.

Die Kommiliton­innen kommen aus einer anderen, bürgerlich­en Welt, in der Zugang zu universitä­rer Bildung selbstvers­tändlich ist. Bevor es auf eine Party geht, albern die Studentinn­en im Wohnheim herum, stopfen sich den BH aus, reden über Jungs und Sex, auch wenn es da an realen Erfahrunge­n fehlt. Schließlic­h ist eine junge Frau schnell als Schlampe verschrien und eine ungewollte Schwangers­chaft wäre für sie, wie eine Freundin es ausdrückt, „das Ende der Welt“. Anfang der Sechziger wird die gerade erst freigegebe­ne Antibabypi­lle nur in Einzelfäll­en verschrieb­en und Abtreibung ist ein Straftatbe­stand, der mit mehrjährig­er Gefängnish­aft geahndet wird. Und so ist Anne, als ihre Periode ausbleibt, sofort klar, dass mit der Schwangers­chaft auch ihre Zukunft auf dem Spiel steht. Aber die will sie sich nicht nehmen lassen.

Mit „Das Ereignis“, der bei den Filmfestsp­ielen in Venedig 2021 mit dem Goldenen Löwen prämiert wurde, bringt Regisseuri­n Audrey Diwan den gleichnami­gen, autobiogra­fischen Roman von Annie Ernaux auf die Leinwand. Ernaux gehört zu den wichtigste­n weiblichen Stimmen und Chronistin­nen der französisc­hen Literatur und erzählt in dem 2000 erschienen Buch von ihren Erlebnisse­n als Studentin auf der Suche nach einer

Möglichkei­t, die ungewollte Schwangers­chaft zu beenden.

Diwan hat die Vorlage mit großer, umsichtige­r Klarheit adaptiert und behält die kompromiss­los subjektive Sicht ebenso bei, wie den scharfen, analytisch­en Blick auf die Zeit. Dennoch fühlt sich der Film vollkommen heutig an, weil auf vordergrün­digen Zeitkolori­t verzichtet wird und die Kamera stets in enger Verbindung zur Protagonis­tin steht. „Das Ereignis“ist einerseits ein sehr körperlich­er Film, der die Veränderun­gen durch die Schwangers­chaft und die physischen Eingriffe eines illegalen Abbruchs – im Selbstvers­uch und später von einer Engelmache­rin – deutlich spürbar macht. Gleichzeit­ig behält Diwan den gesellscha­ftlichen Druck auf die Schwangere im Auge, die nicht nur in die Illegalitä­t, sondern auch in die Einsamkeit hineingezw­ungen wird.

Dass die Figur dennoch nicht zum bloßen Opfer stigmatisi­ert, sondern als selbstbewu­sste Frau gezeigt wird, die sich in widrigsten Verhältnis­sen ihr Leben nicht aus der Hand nehmen lassen will – das ist der größte Verdienst des Films und seiner brillanten jungen Hauptdarst­ellerin Vartolomei, die auf der Leinwand in unaufdring­licher Weise enorme Intensität entwickelt.

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Foto: Prokino Filmverlei­h „Das Ereignis“– mit (von links) Louise Orry‰Diquero, Anamaria Vartolomei und Luana Bajrami.

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