Ein Plädoyer gegen das Vergessen
Der Tag der Befreiung jährt sich. Über Jahrzehnte waren Kriege in Europa selten. Wer das würdigen will, muss sich erinnern. Und – leider – aufrüsten.
Wer einmal in Yad Vashem war, vergisst es nicht. Und wer als Deutscher, als Enkel der Tätergeneration, bei einem Schüleraustausch einmal – eher beiläufig und keinesfalls anklagend – die KZ-Tätowierung auf dem Arm des jüdischen Großvaters gezeigt bekam, vergisst nie wieder. Drei Gedanken:
1. Trotz unvergesslicher Eindrücke ist das Erinnern, sich richtig zu erinnern, schwer. Und es wird schwerer, je länger etwas zurückreicht. Je weniger unmittelbare Eindrücke, je weniger Zeitzeugen von dem Grauen es gibt. Aber zu erinnern, sich richtig zu erinnern, ist gerade wichtiger denn je. Diesen Sonntag jährt sich der „Tag der Befreiung“. Die deutsche Wehrmacht erklärte am 8. Mai 1945 ihre bedingungslose Kapitulation. Der Zweite Weltkrieg war in Europa vorbei. In Asien endete er erst im September, nachdem die Amerikaner zwei Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen hatten. Insgesamt starben durch diesen von Nazi-Deutschland ausgelösten Krieg, die darin begangenen Verbrechen und an den Folgen 80 Millionen Menschen. Der jüdische Großvater hatte das Grauen des Holocaust überlebt. Er saß damals, es war 1997, eher still in seinem Sessel. Dass sein Enkel Gäste aus Deutschland empfing, war sicher in seinem versöhnlichen Sinn.
77 Jahre nach dem 8. Mai 1945 ist wieder Krieg in Europa und ein dritter Weltkrieg ist nicht auszuschließen. Zu den grauenhaftesten unter all den grauenhaften Nachrichten, die aus der von Putins Armee überfallenen Ukraine kommen, gehören jene Meldungen von alten Menschen, die einst Hitlers Mördern irgendwie entkamen und nun durch das Werk Putins ihr Leben verlieren. Unter dem an Zynismus und Verachtung nicht zu überbietenden Vorwand, die Ukraine müsse „entnazifiziert“werden. Zu welchen Gräueltaten diese keinesfalls geschichtsvergessene, sondern die historischen Fakten umdeutende Hetzpropaganda die russische Armee noch treibt, weiß kein Mensch. Aber auch das zeigt, wie wichtig es ist, eine Erinnerungskultur zu pflegen, die Nationalismus unmöglich macht. Und damit Krieg, denn das eine bedingt fast zwangsläufig das andere.
2. Der 8. Mai muss einen daran erinnern, dass es einen dritten Weltkrieg, einen Atomkrieg, unter allen Umständen zu verhindern gilt. Die viel beklagte Zögerlichkeit des Kanzlers ist daher als kluges Abwägen in der Sache (nicht in ihren sehr weitgehend missglückten Versuchen, diese zu erklären) sicher nicht falsch. Dass die SchwereWaffen-Debatte in Deutschland eine emotional-dynamische Grellheit bekommen hat, die auch nicht immer vollumfänglich nachvollzogen werden können muss, darauf hat Jürgen Habermas vergangene Woche in einem viel beachteten Aufsatz hingewiesen. Und dabei die guten Gründe für ein Zögern wünschenswert klar formuliert. Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Jeder Mensch, der gerade in der Ukraine sein Leben verliert, ist einer zu viel. Aber ein Atomkrieg würde wohl mehr als 80 Millionen Menschenleben kosten. Verfällt man, indem man Putins Drohung ernst nimmt, einer rhetorischen Kriegslist? Vielleicht. Aber das Gegenteil herauszufinden kann nicht die Politik einer Bundesregierung sein, die einen Amtseid geschworen hat.
3. Wenn Russland am Montag den Sieg über Nazi-Deutschland feiert, begeht die EU ihren Europatag. Sie sollte sich besinnen, dass sie – und es schmerzt, das zu schreiben – eine Armee braucht. Dringend. Zur Abschreckung. Denn diese hat geholfen, Frieden zu halten.
Zugleich wüsste man gerne, was jener jüdische Großvater heute dazu sagen würde, welche Schlüsse er aus seiner Erinnerung zieht.
Nationalismus bedingt fast immer Krieg