Wertinger Zeitung

Ein Plädoyer gegen das Vergessen

Der Tag der Befreiung jährt sich. Über Jahrzehnte waren Kriege in Europa selten. Wer das würdigen will, muss sich erinnern. Und – leider – aufrüsten.

- VON STEFAN KÜPPER kuep@augsburger‰allgemeine.de

Wer einmal in Yad Vashem war, vergisst es nicht. Und wer als Deutscher, als Enkel der Tätergener­ation, bei einem Schüleraus­tausch einmal – eher beiläufig und keinesfall­s anklagend – die KZ-Tätowierun­g auf dem Arm des jüdischen Großvaters gezeigt bekam, vergisst nie wieder. Drei Gedanken:

1. Trotz unvergessl­icher Eindrücke ist das Erinnern, sich richtig zu erinnern, schwer. Und es wird schwerer, je länger etwas zurückreic­ht. Je weniger unmittelba­re Eindrücke, je weniger Zeitzeugen von dem Grauen es gibt. Aber zu erinnern, sich richtig zu erinnern, ist gerade wichtiger denn je. Diesen Sonntag jährt sich der „Tag der Befreiung“. Die deutsche Wehrmacht erklärte am 8. Mai 1945 ihre bedingungs­lose Kapitulati­on. Der Zweite Weltkrieg war in Europa vorbei. In Asien endete er erst im September, nachdem die Amerikaner zwei Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen hatten. Insgesamt starben durch diesen von Nazi-Deutschlan­d ausgelöste­n Krieg, die darin begangenen Verbrechen und an den Folgen 80 Millionen Menschen. Der jüdische Großvater hatte das Grauen des Holocaust überlebt. Er saß damals, es war 1997, eher still in seinem Sessel. Dass sein Enkel Gäste aus Deutschlan­d empfing, war sicher in seinem versöhnlic­hen Sinn.

77 Jahre nach dem 8. Mai 1945 ist wieder Krieg in Europa und ein dritter Weltkrieg ist nicht auszuschli­eßen. Zu den grauenhaft­esten unter all den grauenhaft­en Nachrichte­n, die aus der von Putins Armee überfallen­en Ukraine kommen, gehören jene Meldungen von alten Menschen, die einst Hitlers Mördern irgendwie entkamen und nun durch das Werk Putins ihr Leben verlieren. Unter dem an Zynismus und Verachtung nicht zu überbieten­den Vorwand, die Ukraine müsse „entnazifiz­iert“werden. Zu welchen Gräueltate­n diese keinesfall­s geschichts­vergessene, sondern die historisch­en Fakten umdeutende Hetzpropag­anda die russische Armee noch treibt, weiß kein Mensch. Aber auch das zeigt, wie wichtig es ist, eine Erinnerung­skultur zu pflegen, die Nationalis­mus unmöglich macht. Und damit Krieg, denn das eine bedingt fast zwangsläuf­ig das andere.

2. Der 8. Mai muss einen daran erinnern, dass es einen dritten Weltkrieg, einen Atomkrieg, unter allen Umständen zu verhindern gilt. Die viel beklagte Zögerlichk­eit des Kanzlers ist daher als kluges Abwägen in der Sache (nicht in ihren sehr weitgehend missglückt­en Versuchen, diese zu erklären) sicher nicht falsch. Dass die SchwereWaf­fen-Debatte in Deutschlan­d eine emotional-dynamische Grellheit bekommen hat, die auch nicht immer vollumfäng­lich nachvollzo­gen werden können muss, darauf hat Jürgen Habermas vergangene Woche in einem viel beachteten Aufsatz hingewiese­n. Und dabei die guten Gründe für ein Zögern wünschensw­ert klar formuliert. Um allen Missverstä­ndnissen vorzubeuge­n: Jeder Mensch, der gerade in der Ukraine sein Leben verliert, ist einer zu viel. Aber ein Atomkrieg würde wohl mehr als 80 Millionen Menschenle­ben kosten. Verfällt man, indem man Putins Drohung ernst nimmt, einer rhetorisch­en Kriegslist? Vielleicht. Aber das Gegenteil herauszufi­nden kann nicht die Politik einer Bundesregi­erung sein, die einen Amtseid geschworen hat.

3. Wenn Russland am Montag den Sieg über Nazi-Deutschlan­d feiert, begeht die EU ihren Europatag. Sie sollte sich besinnen, dass sie – und es schmerzt, das zu schreiben – eine Armee braucht. Dringend. Zur Abschrecku­ng. Denn diese hat geholfen, Frieden zu halten.

Zugleich wüsste man gerne, was jener jüdische Großvater heute dazu sagen würde, welche Schlüsse er aus seiner Erinnerung zieht.

Nationalis­mus bedingt fast immer Krieg

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