Wertinger Zeitung

Der Wahnsinn von Madrid

Fußball Real wehrt sich ein weiteres Mal in einer schier aussichtsl­osen Situation und steht nun im Finale der Champions League. Was das mit Trainer Carlo Ancelotti zu tun hat.

- VON MARCO SCHEINHOF

Madrid Irgendwann an diesem Abend war alles ein wenig durcheinan­dergeraten. Es muss so gegen halb elf gewesen sein, als das Chaos einmal mehr einzog in dieses wunderbare Stadion. Als Real Madrid ein weiteres Mal den Anschein erweckte, sich nun endgültig aus dieser Champions-League-Saison zu verabschie­den. Als viele Fans die Arena bereits verließen, weil sie nicht an ein weiteres Wunder glauben wollten und sich lieber einen gemütliche­n Platz in der noch weitgehend leeren U-Bahn suchten. Eine 3:4-Hinspielni­ederlage sowie ein 0:1-Rückstand hatten eigentlich nur noch den Schluss zugelassen, dass sich zwei englische Teams am 28. Mai in Paris um den Titel in der Königsklas­se duellieren werden. Der FC Liverpool hatte bereits seine Teilnahme klargemach­t, Manchester City war kurz davor. Dann das.

Doppelschl­ag von Rodrygo zu einer Spielzeit, in der viele Teams ihre Aktivitäte­n bereits einstellen. Real Madrid aber hat es zur Perfektion getrieben, sich in schier aussichtsl­osen Situatione­n noch zu befreien. Zwei Tore in der Nachspielz­eit also, später in der Verlängeru­ng ein verwandelt­er Strafstoß von Karim Benzema, schon war Real Madrid Finalteiln­ehmer. Als magisch mag dieses erneute Aufbäumen bezeichnet werden, als überrasche­nd. Irgendwie aber hat all dieses Chaos System.

Zu den Eigentümli­chkeiten dieses Abends gehörte, dass Toni Kroos in der Verlängeru­ng plötzlich zu einem wichtigen Ratgeber wurde. Zum Co-Trainer von Carlo Ancelotti. Der Italiener ist zwar schon 62 Jahre alt, was bei manchem Zeitgenoss­en dazu führt, sich Ratschläge­n gegenüber verschloss­en zu zeigen. Wer soll einem solchen Haudegen schon noch etwas sagen können? Ancelotti ist da anders, wie Kroos hinterher erklärte. „Er ist einfach so. Dass er nicht sagt: ,Ich mache das‘, wenn er leichte Zweifel hat, dass er uns da mit reinholt“, sagte Reals Mittelfeld­spieler, dessen eigentlich­e Arbeitszei­t bereits in Minute 68 geendet hatte. „Der Trainer hatte selbst ein paar Zweifel, wen er noch bringt und wen nicht. Wir selbst haben auch alle ein paar Fußballspi­ele gesehen. Dann kann man sich ein bisschen austausche­n“, sagte Kroos noch, was zugleich eine schlüssige Erklärung für Madrids Widerstand­skraft gegen alle möglichen Unwägbarke­iten war. Der Teamzusamm­enhalt ist ein entscheide­nder Faktor, was bei einer Ansammlung so vieler Top-Spieler nicht gewöhnlich ist. Ancelotti aber hat es hinbekomme­n, dass ein gemeinsame­r Geist durch Reals Kabine schwebt. „Das beschreibt ihn richtig gut, und warum es auch mit der Mannschaft immer gut funktionie­rt. Es ist überragend“, sagte Kroos.

Ancelotti ist etwas gelungen, was kein Trainer vor ihm geschafft hat: Der Italiener hat in allen fünf europäisch­en Top-Ligen den Meistertit­el gewonnen, der spanische hatte ihm noch bis zum vergangene­n Wochenende gefehlt. Ein Verdienst, das natürlich immer eng im Zusammenha­ng mit den Arbeitsplä­tzen steht. In der Bundesliga ist ein Titelgewin­n mit den Münchner Bayern wesentlich leichter zu erreichen als etwa mit dem FC Augsburg. Also profitiert Ancelotti immer auch von der Wahl seines Arbeitgebe­rs. Das kann er aber auch nur wegen seines unbestritt­enen Könnens. Wenngleich seine Amtszeit in München nur eine kurze Haltbarkei­tsdauer hatte. Die Saison 2016/17, immerhin mit dem Meistertit­el gekrönt, und ein paar Spieltage der darauffolg­enden Runde noch – dann war es schon vorbei zwischen Carlo Ancelotti und den Münchnern.

In Madrid scheint es ein wenig besser zu funktionie­ren. Wenngleich irgendwann die ComebackFä­higkeiten Reals ein Ende finden werden. Schon drei Mal in dieser Champions-League-Saison haben sie sich zurückgekä­mpft. Im Achtelfina­le ging das Hinspiel bei Paris Saint-Germain mit 0:1 verloren. Das Rückspiel begann mit einem Rückstand und endete mit einem 3:1-Sieg. Im Viertelfin­ale setzte sich Real im Hinspiel beim FC Chelsea mit 3:1 durch, nur um im Rückspiel 15 Minuten vor Schluss 0:3 zurückzuli­egen. Aber auch das bremste Madrid nicht, nach Verlängeru­ng hieß es 2:3. Und nun der Coup gegen Manchester.

Pep Guardiola muss in der neuen Saison also einen weiteren Versuch starten, die Champions League mit City zu gewinnen. Und Reals Fans wissen spätestens seit Mittwoch, dass sie das Stadion nie zu früh verlassen sollten. Als sie auf dem Heimweg mitbekamen, was sich abspielte, wollten sie zurück in die Arena. Das aber durften sie nicht mehr.

 ?? Foto: Bernat Armangue, dpa ?? Karim Benzema kann es nicht fassen: Durch seinen verwandelt­en Strafstoß brachte er Real Madrid in der Verlängeru­ng ins Finale der Champions League. Der Jubel kannte da‰ nach keine Grenzen mehr. Madrid hatte sich ein weiteres Mal gegen das Ausscheide­n gewehrt.
Foto: Bernat Armangue, dpa Karim Benzema kann es nicht fassen: Durch seinen verwandelt­en Strafstoß brachte er Real Madrid in der Verlängeru­ng ins Finale der Champions League. Der Jubel kannte da‰ nach keine Grenzen mehr. Madrid hatte sich ein weiteres Mal gegen das Ausscheide­n gewehrt.

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