Francesca Melandri: Alle, außer mir (124)
Und wieder mischte sich seine Erleichterung mit dem Furor der Empörung. Der Angriff hatte seiner Männlichkeit gegolten, mehr noch als seinem Leben! Das nämlich waren die Amharen: ein gefangener Tiger, der vor noch nicht allzu langer Zeit italienisches Fleisch gekostet hatte. Jeder Tierbändiger mit Sinn und Verstand würde ihn töten, denn ein Tiger, der Menschen frisst, darf nicht am Leben bleiben. Aber nein. Nun bekamen sie gar nicht genug von so schönen Sätzen wie „Wir werden das römische Recht in die Kolonien tragen“. „Nicht mit Gewalt werden wir herrschen, sondern mit unserer überlegenen Kultur“, und was der Phantastereien mehr waren. Ergebnis: Er lag in diesem Krankenbett und war nur durch Zufall noch am Leben. Nur durch Zufall noch ein Mann.
Doch an der Spitze seines Hasses rangierte eindeutig Badoglio. Er spielte sich nun als Vater des Vaterlandes auf, als großherziger und generöser Anführer, doch in Libyen war er es gewesen, der falsche und gefallsüchtige Piemonteser, der ihm befohlen hatte, voranzuschreiten, „und sollte die ganze Kyrenaika dabei draufgehen“. Das hatte er ihm sogar geschrieben. Und sich natürlich nicht beklagt, als er Omar alMukhtar zum Teufel gejagt hatte. Noch heute erinnerte sich Graziani mit Freude an den alten Mann in seinen Lumpen, der in die Luft trat, als der Strick ihm das Genick brach. Ein Schwall bitterer Wut, schwarz und rasend, schwappte ihm durch die Venen, wenn er an diese Sesselwärmer dachte, die keinen einzigen Tag selbst in der Wüste gekämpft hatten und alle Schmutzarbeit Rodolfo Graziani überließen. Um ihn danach einen „Schlächter“zu nennen.
Der Duce war überhaupt der Einzige, der eine klare Vorstellung davon hatte, was in Abessinien zu tun war. „Radikale Säuberung“hatte er ihm noch am Abend des Attentats telegrafiert. Weise Worte, die Graziani getröstet hatten in seinem Hundeelend aus Schmerz und Todesangst. Ja, radikale Säuberung: Das konnte er, das hatte er schließlich schon in der Kyrenaika getan. Er wusste, wie mit Rebellen umzugehen war, anders als die feinen Herren von der Militärakademie, die nur den Frontenkrieg kannten, die Schachzüge der Bataillone. Es genügten zwei Worte: kollektive Verantwortung. Ein Bandit greift einen Lastwagen an? Dann mache sein Dorf dem Erdboden gleich, erschieße die Männer und überlasse die Frauen deinen Soldaten. In einer Oase verstecken sich Bewaffnete? Dann lasse aus einer Caproni einen schönen Yperit-Regen darauf niedergehen. Und alle anderen stellst du auf die Felder, wo sie keinen stören, fernab der Karawanenstraßen, ein einziger Brunnen für zehntausend Leute. Eine Begrenzung aus Stacheldraht rund um das Lager, ein paar Löcher als Latrinen. Einmal hatte er in der Kyrenaika einen Erkundungsflug gemacht, und was er sah, hatte ihm gefallen. Die geraden Linien der Zelte formten perfekte Quadrate in die leere Sahara, dieselbe rechtwinklige Präzision der Castra Praetoria, mit denen Rom tausend Jahre lang die Welt beherrscht hatte. Nur eben mitten im Nichts, und nicht mit Zenturios, sondern Beduinen bevölkert, viele Tausend Männer, Frauen und Kinder mit nichts um sich herum als dieser ungesund gelben Fläche. Der rechte Ort für Aufständische – das Nichts.
In seinem Krankenhausbett in Addis Abeba lächelte Graziani in sich hinein, als er an den Satz dachte, den er einer spontanen Eingebung folgend an jenem Tag auf das Tor in der Wüste hatte schreiben lassen: DEN ARABERN IST ES NICHT VERBOTEN ZU STERBEN.
In den Jahren danach war mehr als ein Drittel der gut hunderttausend eingesperrten Senussi in den italienischen Konzentrationslagern in Libyen genau dieser einzig explizit erlaubten Aktivität nachgegangen. Unterstützt von Durst, Hunger, Flecktyphus und anderen Krankheiten, zubetonierten Brunnen und zahlreichen Hinrichtungen. Kurz bevor sie geschlossen wurden, war sogar noch eine deutsche Delegation vorbeigekommen und hatte ihre perfekte Organisation bewundert. Die Deutschen hatten sich zahlreiche Notizen gemacht im Hinblick auf eventuell anstehende Notwendigkeiten (über deren Gründe sie sich nicht genauer auslassen wollten), selbst ebenso gut strukturierte Lager errichten zu müssen. Und so wurde die Kyrenaika befriedet. Eben. Und dasselbe war hier in Abessinien zu tun. Addis Abeba dem Erdboden gleich machen. Die Stadt den Italienern überlassen und die Eingeborenen deportieren. Der richtige Ort war das Dhalak-Archipel, der wüstenähnlichste Ort vor Arabien. Gewaltmärsche bis Massaua, egal ob man unterwegs Leute verlor. Von da auf dem Schiff bis zur Insel Nokra, wo es bereits ein von Eritrea gebautes Gefängnis gab, fünfzig Grad im Schatten und eine Million Steine. Die Deportierten konnten in Steinbrüchen arbeiten und so zum Bau der für das Imperium notwendigen Straßen beitragen. Auf dem Landungssteg würde sie ein Spruch in ihrer merkwürdigen Sprache empfangen, welche die etwas Gebildeteren den Analphabeten vorlesen konnten: DEN AMHAREN IST ES NICHT VERBOTEN ZU STERBEN.
Im Operationssaal hatte Graziani drei Maschinengewehre postieren lassen, eines an der Tür und zwei neben den Fenstern; dann noch eines im Flur und um das Krankenhaus einen Ring aus bewaffneten Wachen, der durch das ganze Viertel führte. Tag für Tag kam er wieder, um sich jeden Granatsplitter einzeln aus dem Bein ziehen zu lassen.
„Die ganze Welt will nichts anderes, als dass du dich wieder erholst, hab keine Angst“, sagte Ines, als sie ihn auf sein Zimmer zurückschoben, er noch wirr vor Schmerzen, nachdem sie wie Inquisitoren sein Fleisch gemartert hatten. In diesen Momenten liebte und hasste er sie, denn sie war die reinste, schönste, beste Frau der Welt und hatte doch nichts begriffen. Es stimmte nicht, dass die Welt ihm gute Genesung wünschte. Die Welt wollte seinen Tod. Bevor er in einen unruhigen Schlaf fiel, erwiderte der Vizekönig von Italienisch-Ostafrika diesen Wunsch aus ganzem Herzen.
Mussolini fuhr noch Ski am Terminillo, als ihn Grazianis Telegramm erreichte. Er bat um die Erlaubnis, Addis Abeba dem Erdboden gleich zu machen und die hunderttausend Einwohner – Alte, Frauen und Kinder inklusive - zu deportieren. Der Kolonialminister Lessona war aus Rom herbeigeeilt und schleppte sich mit eiskalten Füßen hinter dem Duce durch den Schnee. Er hatte ihm noch einen zweiten Brief von Graziani mitgebracht. Er enthielt ein paar delikate Fotos von dem halbnackten Marschall (einige als Ganzkörperbild, andere als unangenehm intime Nahaufnahme), die entschieden mehr zeigten, als von einem Vizekönig oder auch jedem anderen zu sehen sein sollte. »125. Fortsetzung folgt