Sie rechnet mit dem Gesundheitswesen ab
Trotz schwerer Lungenbeschwerden fühlte sich Ekin Deligöz von Ärzten nicht ernst genommen: Die Familienstaatssekretärin hegt den Verdacht, dass das auch an ihrem türkischen Nachnamen liegt.
Ekin Deligöz atmet schwer, als sie das Abgeordnetenrestaurant im Reichstagsgebäude betritt. „Meine Lungenfunktion liegt jetzt bei 73 Prozent“, sagt die Familienstaatssekretärin beiläufig und bestellt sich einen kleinen Salat. Die Grünen-Politikerin hat eine schwere Zeit hinter sich: Auf eine Coronaerkrankung vor Weihnachten folgt eine Lungenentzündung, wochenlang geht es immer schlechter statt besser. Doch von den Ärzten, bei denen die 52-Jährige immer verzweifelter Hilfe sucht, fühlt sie sich nicht richtig behandelt, noch nicht einmal ernst genommen.
Immer wieder wird sie, so erzählt sie, vertröstet und in Hausarztpraxen in Berlin „gegen alles Mögliche behandelt“, ohne dass sich ihr Zustand verbessert. Selbst als sie verzweifelt in der Praxis anruft, weil sie keine Luft mehr bekommt, wird sie abgewimmelt. Die Deutschtürkin hat den schlimmen Verdacht, dass das auch mit ihrem Nachnamen zu tun hat. Schließlich packt ihr Mann sie ins Auto und bringt sie in die Notaufnahme. In der Klinik, wo sie erstmals gründlich untersucht wird, stellt sich heraus, dass sie an einer seltenen Autoimmunerkrankung leidet.
Von Polymyositis sind weltweit nur rund 500 Menschen betroffen, Deligöz gehört dazu. Das Leiden führt dazu, dass sich die Quermuskeln
der Lunge jederzeit entzünden können. Der Körper produziert zu viele Immunzellen, richtet seine Abwehr gegen sich selbst – die Folge sind Muskelschwäche, Schmerzen, Schluckbeschwerden und Kurzatmigkeit. Es könne Jahre dauern, bis eine Besserung eintritt, erklären ihr die Ärzte – wenn überhaupt. Ob sie öffentlich darüber sprechen soll, darüber habe sie lange nachgedacht: „Unter Berufspolitikern wird Krankheit oft als persönliche Schwäche empfunden, ein Tabu. Es gilt das Ideal, pausenlos volle Leistung zu bringen.“
Seit 1998 ist die Neu-Ulmerin im Bundestag, lange Jahre bei den Grünen für Familienpolitik zuständig, heute als Staatssekretärin an der von Koalitionskrach überschatteten Einführung der Kindergrundsicherung beteiligt. Auch sie kenne Phasen, in denen nachmittags um 16 Uhr zum ersten Mal Zeit zum Essen ist, in denen praktisch rund um die Uhr Anrufe und Mails von Parteifreunden oder Medienleuten kommen. „Es ist jedenfalls sicher kein Zufall, dass immer mehr Abgeordnete mit Depressionen oder Burn-out zusammenbrechen“, sagt sie.
Den Eindruck, dass da eine Berufspolitikerin ihre herausgehobene Position nutze, um sich über schlechte Behandlung zu beklagen, will sie vermeiden: „Ich dachte zuerst, Pech gehabt, das waren einfach meine eigenen schlechten Erfahrungen. Aber dann las ich
eine Studie, die das Familienministerium mitfinanziert hat, wonach 40 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund erst den Arzt wechseln mussten, bevor sie mit ihren Beschwerden ernst genommen wurden.“Sie macht eine Pause und wiederholt die Zahl, die sie geschockt habe. „40 Prozent!“Da habe sie gedacht: „Anders als viele Betroffene habe ich als Regierungsmitglied die Möglichkeit, mit
meinen Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen. Das möchte ich nutzen, damit sich etwas im Gesundheitssystem ändert.“
Wenn es um teure Apparatemedizin geht, sei Deutschland vielleicht ganz vorn. Aber es fehle an der Zeit, die der Arzt für den einzelnen Patienten hat: „Da stimmt irgendwas im System nicht.“Und manche Leute seien davon stärker betroffen als andere, könnten sich schlechter wehren, würden nicht gehört und übersehen. Arme Menschen, Ältere, Frauen, Leute, die schlecht Deutsch sprechen. „Ich weiß zum Beispiel von Frauen aus Afrika, denen erst mal ein AidsTest nahegelegt wird, wenn sie wegen einer Erkältung zum Arzt kommen“, erzählt sie. Im Gegensatz zu ihren negativen Erfahrungen in Arztpraxen habe sie sich im Krankenhaus deutlich besser aufgehoben gefühlt. „Da hatten viele Ärzte selbst einen Migrationshintergrund, und um die Pflege kümmerten sich Mohamed aus Syrien und Katharina aus Russland.“
Mit ihren Erfahrungen hat sich Ekin Deligöz an den Gesundheitsminister vom Ampelpartner SPD gewandt: „Karl Lauterbach ist ein sehr aufmerksamer Zuhörer. Ich habe ihm empfohlen, dass Reformen im Gesundheitswesen bei allem Kostendruck auch darauf zielen, dass sich Ärzte künftig länger und persönlicher um die einzelnen Fälle kümmern können.“
Deligöz hat konkrete Vorschläge, etwa dass in der Ärzteausbildung stärker auf die Vermittlung von interkultureller Kompetenz geachtet werden sollte. Und die Forschung, auch das eine Erkenntnis der Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung, orientiere sich „noch zu stark am durchschnittlichen europäischen Mann“. Es brauche mehr Mittel für die bessere Behandlung von Frauenleiden.