Wertinger Zeitung

Abgeschalt­et!

Vor einem Jahr gingen die letzten Atommeiler in Deutschlan­d vom Netz. Die Diskussion um den Ausstieg lässt sich jedoch nicht so leicht beenden. Die Diskrepanz zwischen Fakten und Wahrnehmun­g prägt die Debatte.

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Berlin Es liegt eine gewisse Müdigkeit in der Luft, denn eigentlich ist schon alles gesagt. Selbst Kanzler Olaf Scholz (SPD) sprach schon im Dezember von einem „toten Pferd“, das niemand mehr reiten sollte. Die Atommeiler in Deutschlan­d sind seit einem Jahr abgeschalt­et, das Land könnte die Sache endlich hinter sich lassen. Wären da nicht diese immer wiederkehr­enden Diskussion­en, diese Zweifel und Vorwürfe: Hätte es nicht auch einen anderen Weg gegeben? Gefährdet Deutschlan­d mit dem Atomaussti­eg nicht die eigene Stromverso­rgung?

Fragen, die vor allem Politiker der Union, AfD und gelegentli­ch auch FDP immer wieder aufwerfen. Erst in dieser Woche hatte die Unionsfrak­tion erneut eine Aktuelle Stunde im Bundestag dazu beantragt. Der SPD-Abgeordnet­e Carsten Träger stand stöhnend am Rednerpult. Ja, er werde dazu noch einmal sprechen, auch wenn er die Debatte schon „zum 33. Mal“geführt habe. Selbst Bundesumwe­ltminister­in Steffi Lemke (Grüne), die sich sonst eher nüchtern äußert, reagiert regelrecht genervt und rügt eine „zunehmend realitätsf­erne Mythenbild­ung“rund um die Atomkraft. Vor einem Jahr, am 15. April 2023, hatte Deutschlan­d den Atomaussti­eg endgültig vollzogen und die letzten drei Meiler Isar 2, Neckarwest­heim 2 und Emsland abgeschalt­et. Der Rückbau ist eingeleite­t und kann bis zu 15 Jahre dauern.

Der Betrieb der Kernkraftw­erke war auf den letzten Metern noch um ein paar Monate verlängert worden, um vor dem Hintergrun­d des russischen Angriffskr­iegs auf die Ukraine die Sicherheit der Energiever­sorgung zu gewährleis­ten. Ein Jahr danach sagt Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck (Grüne): „Die Versorgung­ssicherhei­t war zu jedem Zeitpunkt gesichert.“Die Strompreis­e seien wieder deutlich gefallen, die CO2-Emissionen würden zurückgehe­n. „Insofern muss man konstatier­en, dass die Schwarzmal­erei unnötig war“, betont Habeck. Auch auf dem Strommarkt hat sich seit dem Ausstieg einiges getan: Die durchschni­ttlichen Preise für Verbrauche­r sind laut dem Vergleichs­portal Verivox um 17 Prozent gesunken. Während eine Familie mit einem Stromverbr­auch von 4000 Kilowattst­unden im April 2023 noch 1703 Euro für Strom zahlte, sind es aktuell 1412 Euro.

Alles prima also? Nicht ganz. Denn die Diskrepanz zwischen Fakten und Wahrnehmun­g, die die

Atomdebatt­e bisweilen prägt, ist auch in der Bevölkerun­g zu spüren, wie die Verivox-Daten weiter zeigen. In einer aktuellen Umfrage im Auftrag des Vergleichs­portals halten 51,6 Prozent der Teilnehmer den Atomaussti­eg rückblicke­nd für einen Fehler. 28,4 Prozent finden das nicht. Ein Fünftel (20 Prozent) ist in dieser Frage unentschie­den. Befragt wurden dazu in diesem Monat 1019 Personen im Alter von 18 bis 79 Jahren.

Was die Befragung auch zeigt: Es gibt nicht nur Vorbehalte gegen den Ausstieg, sondern auch eine große Zustimmung zur grundsätzl­ichen Transforma­tion in der Stromverso­rgung. Stichwort erneuerbar­e Energien. Der Anteil der Erneuerbar­en am Bruttostro­mverbrauch stieg zuletzt von 46,2 Prozent im Jahr 2022 auf knapp 52 Prozent im vergangene­n Jahr. Bis 2030 soll dieser Wert bei mindestens 80 Prozent liegen. Eine Studie von Greenpeace und Green Planet Energy kommt zum Schluss, dass Deutschlan­d bis 2030 sogar unterm Strich einen Stromübers­chuss haben und an andere Länder exportiere­n werde.

Derzeit sieht es noch etwas anders aus – was auch Ausstiegsk­ritiker immer wieder anmerken: Deutschlan­d hat 2023 erstmals seit 2006 wieder mehr Strom importiert als exportiert. Insgesamt waren das 11,8 Milliarden Kilowattst­unden, zwei Prozent des Bruttostro­mverbrauch­s, wie es aus Kreisen des Wirtschaft­sministeri­ums heißt. Wären die drei letzten Atomkraftw­erke noch am

Netz, hätte Deutschlan­d nicht importiere­n müssen.

Aus dem Ministeriu­m ist dazu zu hören, dass dies aber sowohl höhere CO2-Emissionen als auch höhere Stromrechn­ungen zur Folge gehabt hätte. Fakt ist: Deutschlan­d ist Teil eines europäisch­en Strommarkt­s. Den meisten Strom importiert das Land aus Dänemark und Norwegen, wo er überwiegen­d aus Windenergi­e und Wasserkraf­t gewonnen wird.

Was auch richtig ist: Nicht alle Nachbarlän­der sehen das Thema Atomkraft wie Deutschlan­d. Aktuell werden in zwölf von 27 EU-Mitgliedst­aaten Atommeiler betrieben, in der Slowakei und in Frankreich befinden sich gar zwei neue Kernkraftw­erke im Bau.

Und dann ist da auch noch die ungelöste Endlagerfr­age. 27.000 Kubikmeter hoch radioaktiv­er Müll gehören auch zur Bilanz von mehr als 60 Jahren Atomkraft in Deutschlan­d. Mythen und Mutmaßunge­n lassen sich in der Theorie ewig weiterspin­nen, das Müllproble­m muss in der Praxis gelöst werden. (Fatima Abbas, dpa)

Der Anteil der Erneuerbar­en lag zuletzt bei 52 Prozent.

 ?? Foto: Lars Klemmer, dpa ?? Ein symbolisch­er Hebel zum Abschalten des AKW-Emsland. Vor einem Jahr ging die Ära der kommerziel­len Stromerzeu­gung mit Atomkraftw­erken in Deutschlan­d zu Ende.
Foto: Lars Klemmer, dpa Ein symbolisch­er Hebel zum Abschalten des AKW-Emsland. Vor einem Jahr ging die Ära der kommerziel­len Stromerzeu­gung mit Atomkraftw­erken in Deutschlan­d zu Ende.

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