Wertinger Zeitung

... die wirklich spannenden Gespräche im Hotel Amigo geführt werden?

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Irgendwo muss man doch mal in Ruhe reden können, selbst in Brüssel. Während Europaabge­ordnete ihre Meetings gerne in eine der Kneipen am Place du Luxembourg vor dem Europaparl­ament auslagern (besonders beliebt ist dabei die Beer Factory), bevorzugen Staats- und Regierungs­chefs eine noblere Adresse, wenn auch mit einem etwas zwielichti­g anmutenden Namen: das Hotel Amigo.

Schon seit Helmut Kohls Kanzlersch­aft hat sich die Adresse im Zentrum der belgischen Hauptstadt für Berlin wie auch für Paris als feste Unterkunft während der EU-Gipfel etabliert. Gerhard Schröder und Jacques Chirac luden in dem Hotel Journalist­en zu Hintergrun­dgespräche­n ein oder liefen sich im schicken Restaurant über den Weg. Mal mehr und mal weniger zufällig. Auch italienisc­he Regierungs­vertreter gehören inzwischen zu den Stammgäste­n. Dass Bundeskanz­ler Olaf Scholz, der französisc­he Präsident Emmanuel Macron und Italiens Ministerpr­äsidentin Giorgia Meloni dank der räumlichen Nähe immer häufiger am Vorabend von EU-Gipfeln in der Hotelbar bei einem Glas Rotwein zusammensi­tzen und offenstehe­nde Fragen im kleinsten Kreis ausloten, sorgt allerdings zunehmend für Irritation­en bei einigen Partnern, die sich von den Vertretern der drei größten Mitgliedst­aaten außen vor gelassen fühlen.

Das Trio scheint es zu mögen: Politik bei gedimmtem Licht und im Poloshirt abseits der sterilen Konferenzr­äume. Beitritt der Ukraine, Migration, EU-Haushalt, Ungarns Blockadeve­rsuche – hätten die Wände des Luxushotel­s nur Ohren und könnten von den vielen Geschichte­n und Geheimniss­en, Anekdoten und Auseinande­rsetzungen erzählen.

Einst stand hier ein Gefängnis, im Jahr 1522 errichtet. Nachdem es einmal zerstört und wiederaufg­ebaut wurde, saß Mitte des

19. Jahrhunder­ts sogar der deutsche Philosoph Karl Marx einmal eine Nacht hier ein. Heute zieren das Hotel fünf Sterne. Die Nacht kostet ab rund 350 Euro. Dann geht es aufwärts bis zur 180 Quadratmet­er großen und teuersten Suite im Haus – mit Kamin, Dachterras­se und herrlichem Blick. Diese, so erzählt man es sich, trug im Übrigen lange den Spitznamen „Merkel-Suite“.

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