Wenn der Berg ruft
Roman Graf beschreibt in „Niedergang“Schönheit und Schrecken
Endlich beginnt die richtige Wanderung: „Sie schritten auf großen Steinen, Schutt, Steinchen in der Größe von Sandkörnern, auf blankem Fels, und sie stiegen mehr, als dass sie schritten, selbst die steilsten Stücke des Vortages waren nicht so steil gewesen wie dieser Anstieg.“
Aus der Sessel-Perspektive des Lesers fühlt sich die Wanderung im Hochgebirge strapaziös an. Jeder Knochen im Leibe schmerzt und er fragt sich: Warum tun sich Menschen so etwas an? Ohne Not bei Wind und Wetter auf einen Gipfel zu steigen? Und in den Rucksäcken nicht nur den Proviant mitschleppen – Stullen mit Schinken und Käse, Kaffee in der Thermoskanne –, sondern auch die bisher unausgesprochenen Probleme einer langen Zweisamkeit? Über Wochen hat der Schweizer André die Tour geplant, will seiner Freundin Louise die Schönheit der heimischen Alpenlandschaft zeigen. Bei Nebel, Kälte, Dunkelheit. Doch die Sonne – lange versprochen – hält sich zurück. Möglich, dass sie die düstere Stimmung der jungen Leute hätte aufhellen können.
Louise hält tapfer mit. Sie, die aus der Ebene von MecklenburgVorpommern hier heraufgekommen ist, will es sich und ihm beweisen. Kein Jammern, kein Klagen. Mühsam erreicht sie mit André die Steinhütte auf 2 500 Metern, das Tagesziel. Längst gibt es dort keinen Alm-Öhi mehr, der Wirt ist ein Deutscher. Schlimmer noch. Wie Louise auch stammt er aus der früheren DDR. Schweizer Alpenromantik sieht anders aus.
Nach unruhiger Nacht auf dem Heuboden, zusammen mit schnarchenden, übelriechenden Fremden geht es im Morgengrauen weiter. Nieselregen nimmt die Sicht, zerrt an den Nerven. Die Bergtour wird zum Kampf gegen Widerstände, gegen die Krise, die bisher unbesprochen blieb. Das Paar entzweit sich. André will hoch hinauf. Louise bleibt immer weiter zurück und kehrt schließlich um.
Schrecken und Schönheiten „Mit strammen Schritten stürmte André in den Kamin hinein“, notiert Graf. „Die Kränkung wegen Louises Entscheidung war so groß, dass er weder nachdenken konnte noch den Felsen wahrnahm, der ihn nun wieder umschloss.“Die finale Kletterpartie wird für den einsamen Bergsteiger mehr und mehr zum lebensbedrohenden Risiko. Eine Umkehr ist ausgeschlossen, dafür reichen seine Kräfte nicht. Er darf nicht zaudern. Unentschiedenheit, das wäre der Tod.
Roman Graf, der Autor aus Winterthur, offenbart in seinem Roman die Gefahren des Kletterns, die Schrecken, aber auch die Schönheiten seiner Schweizer Berge. Er muss selbst oft genug in Abgründe geschaut, steile Wände durchstiegen und Todesängste durchlitten haben. Auf dem Gipfel schließlich robbt sein Held André auf dem Bauch so weit hinaus wie möglich und schaut hinunter, auf der Suche nach einem Abstieg. Doch er sieht nur zwei Gemsen an einem See, die majestätisch ihre Köpfe zum Wasser senken und trinken. Roman Graf: „Niedergang.“Knaus, 208 S., ISBN 978-3-8135-0566-5.