Was Aristoteles gestern nicht im Traum ahnte, erwischt ihn morgen kalt
l’archer“aus dem Jahr 1839: „Quant à Godefroy, qui, dans un moment de prescience, sans doute, voyait avec peine tous ces arrangements, il donna pour tout don à sa nièce ce chapelet…“, schreibt er. Den Rosenkranz kann die Nichte, die schöne Béatrix, gut gebrauchen, denn ihr Verlobter Rodolphe d’Alost, ein Kreuzritter, fällt später beim Sturm auf Jerusalem.
„Was den weisen Herrscher und den guten General befähigt zuzuschlagen und zu siegen und Dinge zu erreichen, die außerhalb der Fähigkeiten gewöhnlicher Männer liegen, ist Vorherwissen“, schlussfolgerte auch Sunzi in seinem „Die Kunst des Krieges“. Statt auf Sterne oder göttliche Eingebung setzt der Kriegsphilosoph hierfür auf das Können beflissener Spione.
Ist eine Geschichte spannend genug, dann nimmt man es sogar mit der Wahrheit nicht so ganz genau, sondern legt sie sich so zurecht, wie es einem gerade am besten passt. So erkennen Betrachter in „Der wilde Ritt“von Franz Stuck aus dem Jahr 1889 in der Gestalt Odins das Antlitz Adolph Hitlers.
Nicht das einzige Beispiel in der bildenden Kunst. Drei Stichworte – New York, Hochhäuser, Flugzeuge – und schon entspringt vor dem geistigen Auge das Bild, das sich am 11. September 2001 ins kollektive Gedächtnis einbrannte: das Attentat auf das World Trade Center. In seiner „Blauen Serie“, die im September 1963 und Juli 1970 entstanden, soll Fred Nömeier die Tragödie bereits geahnt zu haben. „Ich habe damals natürlich nicht den 11. September voraussagen können, aber in mir war eine Warnung, eine düstere Vorhersehung. Das ist wie mit einem Auto, bei dem sie beim Fahren merken, es stimmt etwas nicht, aber sie wissen nicht was“, erklärte der Maler 2009 dem „Münchner Merkur“.
Geradezu prophetisch, trotz seines ausgelassen-humorvollen Tons, mutet auch Chaplins „The Great Dictator“an, der bereits 1940 ein überraschend klares Bild von Adolf Hitler und NaziDeutschland zeichnete. Man darf sich rückblickend durchaus fragen, ob der eine Mann mit dem Zweifingerbart den anderen Mann mit Zweifingerbart nicht schneller durchschaut hatte als alle anderen.
Auch im Kino kann der sechste Sinn punkten. Mit seinem Erstlingswerk „The Sixth Sense“spielt der amerikanische Regisseur M. Night Shyamalan gekonnt mit der Ahnungslosigkeit des Publikums. Etwas weniger überzeugend fällt der Mystery-Thriller „Premonition“von Mennan Yapo aus dem Jahr 2007 aus, bei dem Sandra Bullock abwechselnd Tage vor und nach dem Tod ihres Ehemanns erlebt – und dabei versucht, dessen Unfalltod zu verhindern. Ob in David Lynchs „Dune“, nach dem Roman von Frank Herbert (1963), oder in Spielbergs „Minority Report“, nach einer 1956 erschienenen Kurzgeschichte des US-amerikanischen Science-FictionAutors Philip K. Dick: hellseherische Mutanten ermöglichen Weltraumreisen bzw. sagen Verbrechen voraus.
Das erweist sich jeweils als zweifelhafte Gabe. Vielleicht zeichnet deshalb der selbe Philip K. Dick 1954 in seiner Kurzgeschichte „The Golden Man“das Bild eines jungen goldenen Mutanten, der zwar die Zukunft voraussehen und dementsprechend erfolgreich seinem animalischen Überlebensinstinkt folgen kann; ihm fehlt jedoch die menschliche Intelligenz, um aus diesem Vorwissen weiteren Nutzen zu ziehen – wobei wir wieder beim Lottogewinn angelangt wären.
So abgehoben muss es ja auch nicht sein – das beweist „Der 7. Sinn“, im deutschsprachigen Raum der „Vater“aller Verkehrserziehungssendungen.