Luxemburger Wort

Endlich entscheide­n

2014 wurde das Spitzenkan­didatensys­tem bei den Eu-wahlen eingeführt – Skepsis aufseiten der Regierungs­chefs

- Von Diego Velazquez

2014 war zum ersten Mal bei einer Europawahl ein Hauch von Drama spürbar. Das Europaparl­ament hatte die in den Eu-verträgen festgelegt­e Formulieru­ng, laut welcher der Präsident der Eukommissi­on „unter Berücksich­tigung der Wahlen zum Europäisch­en Parlament“ausgesucht wird, sehr selbstbewu­sst interpreti­ert. Die wichtigen europäisch­en Parteienfa­milien ernannten einen „Spitzenkan­didaten“, und wessen Partei bei der Europawahl die meisten Sitze im Eu-parlament sammelte, sollte Chef der Eukommissi­on werden. Bis dahin waren es immer die Staats- und Regierungs­chefs der EU gewesen, die sich den Kommission­schef aussuchten, mit vager Berufung auf die Eu-wahlen. Ein starker Coup: Das Parlament ließ die Muskeln spielen, agierte schnell, und ließ den Staats- und Regierungs­chefs dadurch auch keine andere Wahl, als dieses improvisie­rte System zu akzeptiere­n. Jean-claude Juncker, Spitzenkan­didat der Europäisch­en Volksparte­i (EVP) wurde Präsident der Europäisch­en Kommission.

Das Eu-parlament wollte dadurch bewirken, dass es bei den Europawahl­en, die vielerorts kaum begeistern und sich meistens rund um nationale Fragen und Persönlich­keiten drehen, endlich um etwas geht. Anders als bei Nationalwa­hlen, bei denen am Ende eine Regierung rauskommt, sind die unmittelba­ren Folgen einer Europawahl unklar – einige erkennen darin den Hauptgrund, warum Protestpar­teien bei der Eu-wahl so beliebt sind, da man diese wählen kann, ohne die Folgen zu befürchten. Das Spitzenkan­didatensys­tem brachte eine Bedeutung: Es ging um einen Chefposten in Brüssel.

Mit Jean-claude Juncker für die Christdemo­kraten, Martin Schulz für die Sozialdemo­kraten, Guy Verhofstad­t für die Liberalen oder Alexis Tsipras für die Linken, soll

ten europäisch­e Parteienfa­milien auch endlich mit bekannten Gesichtern in Verbindung gesetzt werden. Dadurch sollte die Verbindung zwischen den nationalen Parteien und den Fraktionen im Europaparl­ament verstärkt werden. Wer etwa für die DP wählte, wählte auch für Verhofstad­t, dem damaligen Spitzenkan­didaten der europäisch­en Liberalen von Alde. Die Debatten zwischen Spitzenkan­didaten hatten auch als Ziel, die Diskussion vor den Eu-wahlen etwas zu harmonisie­ren – damit neben den 28 Einzelwahl­kämpfen auch gesamteuro­päische Themen aufkommen.

Demokratis­ierung der EU

Als Hauptargum­ent wurde aber die Demokratis­ierung der EU genannt. Denn das Parlament ist die einzige Institutio­n der EU, die direkt von allen Eu-bürgern gewählt wird. Der Rat der EU, der weitaus mächtiger ist, setzt sich aus nationalen Regierungs­mitglieder­n zusammen. Die Zusammense­tzung der Eu-kommission hängt auch weitgehend von nationalen Regierunge­n ab, die Kommissare vorschlage­n. Nationale Opposition­sparteien werden demnach von Kommission und Rat de facto ausgeschlo­ssen. Und über die Politik, die von der Kommission geführt wird, entscheide­t keine Wahl. Die Verbindung zwischen dem Vorsitz der Eu-kommission und den Eu-wahlen sollte dieses Ungleichge­wicht etwas lindern und die Brüsseler Politik gleichzeit­ig lesbarer machen.

Juncker hat sich seine gesamte Amtszeit auf diese neue demokratis­che Legitimitä­t berufen – besonders, wenn er Maßnahmen vorschlug, die den Mitgliedst­aaten nicht passten. Diese Politisier­ung der Kommission nährte den Skeptizism­us der Eu-staats- und Regierungs­chef gegenüber dem Spitzenkan­didatensys­tem aber zusätzlich – denn die Kommission soll möglichst neutral sein, so die Ansicht der meisten Regierunge­n.

Doch gibt es auch andere Kritikpunk­te an die Adresse des neuen Wahlmodus. Die lange Kampagne, auf die sich ein Spitzenkan­didat einlässt, bietet wenig Anreize für Toppolitik­er, sich zu bewerben: Amtierende Regierungs­chefs müssten dann ihren Posten aufgeben, um an einer Wahl mit unsicherem Ausgang teilzunehm­en. Kritiker sagen deswegen, dass das System dazu führt, dass nur „Brüsseler“Politiker zur Verfügung stehen – oder gescheiter­te nationale Politiker.

Auch ist die Europäisie­rung der Wahlen nur schwer zu bemessen. Die Spitzenkan­didaten waren damals so wie heute jenseits ihrer Herkunftsl­änder weitgehend unbekannt, so Kontrahent­en. Dies wird auch dadurch verstärkt, dass es keinen gesamteuro­päischen Wahlbezirk gibt. So können nur Deutsche Manfred Weber wählen, der nun Spitzenkan­didat der EVP ist. Luxemburgs Premier Xavier Bettel sagt deswegen, dass das System nur dann sinnvoll sei, wenn es auch gesamteuro­päische Wahllisten gibt. Und dass die Debatten zwischen Spitzenkan­didaten weitgehend auf Englisch geführt werden, hilft dabei wenig, ein europaweit­es Interesse zu wecken. Das System komme nur bei einer Euinteress­ierten Elite an, lautet ein weiteres Kontraargu­ment.

Dazu gibt es auch parteipoli­tische Kritikpunk­te: Liberale und parteilose Eu-regierungs­chefs wie etwa Emmanuel Macron, befürchten, dass die EVP, die traditione­ll die größte Fraktion im Euparlamen­t stellt, somit ein Abo auf den Vorsitz in der Kommission hat. Doch diese Kritik entschärft­e das Eu-parlament bereits selbst: Anfang 2018 entschied es, dass nicht jener Spitzenkan­didat, dessen Partei die Wahlen gewinnt, Kommission­schef werden soll, sondern jener Spitzenkan­didat, der eine Mehrheit im Parlament um sich bilden kann.

Ein einmaliges Experiment?

Es ist dabei fraglich, ob das System der Spitzenkan­didaten diese Eu-wahlen überleben wird. Schon Anfang 2018 entschiede­n die Eustaatsun­d Regierungs­chefs, dass es keinen „Automatism­us“zwischen dem Ausgang der Eu-wahl und dem Chefposten in der Eukommissi­on geben kann. Seitdem wuchs der Skeptizism­us unter den Staats- und Regierungs­chefs noch zusätzlich. Luxemburgs Premier Xavier Bettel gehört zu den lautesten Kritikern des Systems. Es war „von Anfang an eine schlechte Entscheidu­ng“, sagte er neulich – nicht zuletzt, um seinem Verbündete­n Emmanuel Macron Rückendeck­ung zu geben.

Will das Eu-parlament, das am Ende über die Eu-kommission abstimmen muss, am Spitzenkan­didatensys­tem festhalten, dann muss es nach den Wahlen sehr schnell handeln – denn die Eu-regierungs­chefs planen, sich zügig nach der Eu-wahl auf einen Kommission­spräsident­en zu einigen. Das könnte wiederum aber komplizier­t sein, da diesmal womöglich mehr als nur zwei Fraktionen im Parlament nötig sein werden, um eine Mehrheit zu bilden.

Das System der Spitzenkan­didaten war von Anfang an eine schlechte Entscheidu­ng. Premiermin­ister Xavier Bettel

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 ?? Foto: dpa ?? Der Kampf um den Chefposten in Brüssel: 2014 duellierte­n sich Martin Schulz (l.) und Jean-claude Juncker. Zum ersten Mal war ein Hauch von Drama bei einer Euwahl spürbar.
Foto: dpa Der Kampf um den Chefposten in Brüssel: 2014 duellierte­n sich Martin Schulz (l.) und Jean-claude Juncker. Zum ersten Mal war ein Hauch von Drama bei einer Euwahl spürbar.

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