Endlich entscheiden
2014 wurde das Spitzenkandidatensystem bei den Eu-wahlen eingeführt – Skepsis aufseiten der Regierungschefs
2014 war zum ersten Mal bei einer Europawahl ein Hauch von Drama spürbar. Das Europaparlament hatte die in den Eu-verträgen festgelegte Formulierung, laut welcher der Präsident der Eukommission „unter Berücksichtigung der Wahlen zum Europäischen Parlament“ausgesucht wird, sehr selbstbewusst interpretiert. Die wichtigen europäischen Parteienfamilien ernannten einen „Spitzenkandidaten“, und wessen Partei bei der Europawahl die meisten Sitze im Eu-parlament sammelte, sollte Chef der Eukommission werden. Bis dahin waren es immer die Staats- und Regierungschefs der EU gewesen, die sich den Kommissionschef aussuchten, mit vager Berufung auf die Eu-wahlen. Ein starker Coup: Das Parlament ließ die Muskeln spielen, agierte schnell, und ließ den Staats- und Regierungschefs dadurch auch keine andere Wahl, als dieses improvisierte System zu akzeptieren. Jean-claude Juncker, Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) wurde Präsident der Europäischen Kommission.
Das Eu-parlament wollte dadurch bewirken, dass es bei den Europawahlen, die vielerorts kaum begeistern und sich meistens rund um nationale Fragen und Persönlichkeiten drehen, endlich um etwas geht. Anders als bei Nationalwahlen, bei denen am Ende eine Regierung rauskommt, sind die unmittelbaren Folgen einer Europawahl unklar – einige erkennen darin den Hauptgrund, warum Protestparteien bei der Eu-wahl so beliebt sind, da man diese wählen kann, ohne die Folgen zu befürchten. Das Spitzenkandidatensystem brachte eine Bedeutung: Es ging um einen Chefposten in Brüssel.
Mit Jean-claude Juncker für die Christdemokraten, Martin Schulz für die Sozialdemokraten, Guy Verhofstadt für die Liberalen oder Alexis Tsipras für die Linken, soll
ten europäische Parteienfamilien auch endlich mit bekannten Gesichtern in Verbindung gesetzt werden. Dadurch sollte die Verbindung zwischen den nationalen Parteien und den Fraktionen im Europaparlament verstärkt werden. Wer etwa für die DP wählte, wählte auch für Verhofstadt, dem damaligen Spitzenkandidaten der europäischen Liberalen von Alde. Die Debatten zwischen Spitzenkandidaten hatten auch als Ziel, die Diskussion vor den Eu-wahlen etwas zu harmonisieren – damit neben den 28 Einzelwahlkämpfen auch gesamteuropäische Themen aufkommen.
Demokratisierung der EU
Als Hauptargument wurde aber die Demokratisierung der EU genannt. Denn das Parlament ist die einzige Institution der EU, die direkt von allen Eu-bürgern gewählt wird. Der Rat der EU, der weitaus mächtiger ist, setzt sich aus nationalen Regierungsmitgliedern zusammen. Die Zusammensetzung der Eu-kommission hängt auch weitgehend von nationalen Regierungen ab, die Kommissare vorschlagen. Nationale Oppositionsparteien werden demnach von Kommission und Rat de facto ausgeschlossen. Und über die Politik, die von der Kommission geführt wird, entscheidet keine Wahl. Die Verbindung zwischen dem Vorsitz der Eu-kommission und den Eu-wahlen sollte dieses Ungleichgewicht etwas lindern und die Brüsseler Politik gleichzeitig lesbarer machen.
Juncker hat sich seine gesamte Amtszeit auf diese neue demokratische Legitimität berufen – besonders, wenn er Maßnahmen vorschlug, die den Mitgliedstaaten nicht passten. Diese Politisierung der Kommission nährte den Skeptizismus der Eu-staats- und Regierungschef gegenüber dem Spitzenkandidatensystem aber zusätzlich – denn die Kommission soll möglichst neutral sein, so die Ansicht der meisten Regierungen.
Doch gibt es auch andere Kritikpunkte an die Adresse des neuen Wahlmodus. Die lange Kampagne, auf die sich ein Spitzenkandidat einlässt, bietet wenig Anreize für Toppolitiker, sich zu bewerben: Amtierende Regierungschefs müssten dann ihren Posten aufgeben, um an einer Wahl mit unsicherem Ausgang teilzunehmen. Kritiker sagen deswegen, dass das System dazu führt, dass nur „Brüsseler“Politiker zur Verfügung stehen – oder gescheiterte nationale Politiker.
Auch ist die Europäisierung der Wahlen nur schwer zu bemessen. Die Spitzenkandidaten waren damals so wie heute jenseits ihrer Herkunftsländer weitgehend unbekannt, so Kontrahenten. Dies wird auch dadurch verstärkt, dass es keinen gesamteuropäischen Wahlbezirk gibt. So können nur Deutsche Manfred Weber wählen, der nun Spitzenkandidat der EVP ist. Luxemburgs Premier Xavier Bettel sagt deswegen, dass das System nur dann sinnvoll sei, wenn es auch gesamteuropäische Wahllisten gibt. Und dass die Debatten zwischen Spitzenkandidaten weitgehend auf Englisch geführt werden, hilft dabei wenig, ein europaweites Interesse zu wecken. Das System komme nur bei einer Euinteressierten Elite an, lautet ein weiteres Kontraargument.
Dazu gibt es auch parteipolitische Kritikpunkte: Liberale und parteilose Eu-regierungschefs wie etwa Emmanuel Macron, befürchten, dass die EVP, die traditionell die größte Fraktion im Euparlament stellt, somit ein Abo auf den Vorsitz in der Kommission hat. Doch diese Kritik entschärfte das Eu-parlament bereits selbst: Anfang 2018 entschied es, dass nicht jener Spitzenkandidat, dessen Partei die Wahlen gewinnt, Kommissionschef werden soll, sondern jener Spitzenkandidat, der eine Mehrheit im Parlament um sich bilden kann.
Ein einmaliges Experiment?
Es ist dabei fraglich, ob das System der Spitzenkandidaten diese Eu-wahlen überleben wird. Schon Anfang 2018 entschieden die Eustaatsund Regierungschefs, dass es keinen „Automatismus“zwischen dem Ausgang der Eu-wahl und dem Chefposten in der Eukommission geben kann. Seitdem wuchs der Skeptizismus unter den Staats- und Regierungschefs noch zusätzlich. Luxemburgs Premier Xavier Bettel gehört zu den lautesten Kritikern des Systems. Es war „von Anfang an eine schlechte Entscheidung“, sagte er neulich – nicht zuletzt, um seinem Verbündeten Emmanuel Macron Rückendeckung zu geben.
Will das Eu-parlament, das am Ende über die Eu-kommission abstimmen muss, am Spitzenkandidatensystem festhalten, dann muss es nach den Wahlen sehr schnell handeln – denn die Eu-regierungschefs planen, sich zügig nach der Eu-wahl auf einen Kommissionspräsidenten zu einigen. Das könnte wiederum aber kompliziert sein, da diesmal womöglich mehr als nur zwei Fraktionen im Parlament nötig sein werden, um eine Mehrheit zu bilden.
Das System der Spitzenkandidaten war von Anfang an eine schlechte Entscheidung. Premierminister Xavier Bettel