Miss Gladys und ihr Astronaut
116
So, so. Die holt sich jetzt also ihr Stück vom Pr-kuchen. Jetzt wird man von ihnen erwarten, dass sie den Zeitungen und dem Fernsehen ihre Geschichte erzählen.
Ellie ruft Claudia entgegen: „Na, holen Sie sich jetzt Ihre Beute ab?“
Gladys schaut sie blinzelnd an. „Das ist doch die Frau von dieser Raumfahrtfirma. Und schau mal, wen sie dabeihat.“
Claudia tritt beiseite, und die Pressemeute teilt sich. Dort stehen zwei Wachmänner in Uniform rechts und links von einem Mann mit dunklen Haaren, blauem Hemd und schwarzer Hose. Er lächelt Ellie zu. Sie gerät ins Stolpern und befürchtet, sie könnte gleich ohnmächtig werden.
„Das ist doch unser Darren“, sagt Gladys. „Daddy!“, schreit James. Er lässt den Umschlag und den Pokal fallen, den Delil gerade noch auffangen kann, bevor er auf der Bühne aufschlägt. James springt vor und rennt die Treppe hinunter, saust den Gang entlang und wirft sich in die Arme von Darren Ormerod. Ellie schließt die Augen. Ist es jetzt vorbei? Man bringt sie in einen privaten Raum in einem oberen Geschoss – Claudia, die Ormerods, die Wachleute und Delil. James kann gar nicht aufhören, Darren zu drücken; Ellie beobachtet ihn ein bisschen misstrauisch. „Haben Sie das eingefädelt?“, fragt sie Claudia.
Claudia lächelt. „Seit ich euch getroffen habe, bin ich im Gespräch mit Behörden und Bewährungshelfern. Ich habe ihnen die Situation geschildert, und da euer Vater so ein vorbildlicher Häftling war und schon einen guten Teil seiner Strafe abgesessen hat, haben sie sich bereit erklärt, ihn auf Bewährung freizulassen. Er muss den Rest seiner Strafe zwar noch verbüßen, aber das darf er zu Hause tun. Bei euch. Solange er nicht wieder mit dem Gesetz in Konflikt kommt, muss er nicht zurück ins Gefängnis.“
Darren löst sich aus James’ Griff und schaut seine Tochter an. „Ellie“, sagt er. „Nimmst du mich denn gar nicht in den Arm?“Ellie schaut weg. „Ich hab dir noch nicht verziehen, was du getan hast.“
„Du hättest mir erzählen sollen, in was für Schwierigkeiten ihr steckt“, sagt er. „Ich hätte doch was tun können.“
„Du hättest gar nichts tun können“, sagt sie. „Nicht hinter Gittern. Wir konnten dich nicht besuchen kommen, weil es Nan immer schlechter ging, und als du angerufen hast … na ja, ich wollte einfach nicht, dass du dich sorgst. Du hättest bloß einen Aufstand gemacht, und dann hätten sie uns noch früher auseinandergerissen.“Ellie verschränkt die Arme und schaut auf ihre Füße. „Ich bin auch so zurechtgekommen. Vielleicht brauchen wir dich auch gar nicht mehr.“
Auf Darrens Gesicht zeichnet sich seine Qual ab. „Sag so was nicht. Ich weiß, dass du böse auf mich bist, aber sag so was nicht. Ich bin wieder da. Wir können es schaffen. Aber wir müssen zusammenhalten.“
Ellie merkt, wie ihr eine Träne über die Wange läuft und auf ihren Unterarm tropft. Sie schaut ihren Vater an, dann rennt sie auf ihn zu und wirft ihm die Arme um den Hals. Er hält sie ganz fest, und Ellie fühlt sich wieder wie ein Kind, und sie weint wie ein Kind und drückt ihren Vater an sich. Und einen Moment lang wiegt sie sich in dem Glauben, dass jetzt alles gut wird. Gladys geht zu dieser Claudia, die selber heult wie ein Baby, und sagt: „Kann ich mit Major Tom sprechen?“
Claudia tupft sich die Augen ab. „Was, Mrs Ormerod? Jetzt?“
Gladys nickt. „Es ist ziemlich wichtig. Sehr wichtig, glaube ich. Können Sie ihn nicht anrufen?“
Claudia zuckt mit den Schultern und tippt eine Nummer. Dann sagt sie: „Hallo, Bodenstation? Craig! Wo ist Baumann? Was? Er pfeift? Na, egal. Können Sie die Techniker bitten, diesen Anruf zu Thomas durchzustellen? Wäre das möglich? Ja, ich bleib dran.“
Gladys hat Kopfschmerzen, sie fühlt sich, als sollte sie sich lieber hinlegen. Während Claudia wartet, mustert Claudia sie mit gerunzelter Stirn. „Mrs Ormerod? Geht es Ihnen gut? Sie sehen ein bisschen blass aus … Oh, Moment.“Sie reicht ihr das Telefon. „Sie sind jetzt mit der Ares-1 verbunden.“Thomas sitzt vor dem Monitor, durch den der Ton übertragen wird. „Gladys!“, sagt er. „Wie schön, von Ihnen zu hören! Wie hat er sich geschlagen?“
„Er hat natürlich gewonnen“, sagt Gladys. „Obwohl, Fürze live im Fernsehen … ich weiß ja nicht, wohin das noch führen soll. Aber egal, das ist nicht das, worüber ich mit Ihnen sprechen wollte. Ich hab meine Augen ausgeruht, bevor James auf die Bühne ging, und da hab ich von Mr Trimble geträumt.“
„Mr Trimble?“Thomas ist ratlos. Er hatte schon fast vergessen, wie es ist, wenn man sich mit Gladys unterhält.
„Ja“, sagt Gladys gereizt. „Mr Trimble. Er war einer von meinen Lehrern an der Sonntagsschule. Seit Sie mir diese Kreuzworträtselfrage vorgelesen haben, hab ich fast die ganze Zeit an die Sonntagsschule gedacht. Ich glaube, ich hab sie geknackt.“Thomas schweigt einen Augenblick, dann sagt er: „Wow, verdammt! Sie haben es echt rausgekriegt?“Er schaut sich nach seinem Buch und dem Stift um und findet sie in der Schwebe neben dem Fenster. „Moment. Ich hab’s. Hier ist es. 18 senkrecht: Wenn sie sich verzieht, kann sie Angina verursachen. Zumindest sprichwörtlich. Acht Buchstaben. Es ist das letzte Wort, das mir fehlt. Ich bin mit meinem Latein am Ende.“
„Na ja“, sagt Gladys. „Angina – das ist diese Herzkrankheit, nicht wahr? Die hat meinen Bill am Ende drangekriegt. Und dann verzieht sich auch noch etwas.“
Thomas starrt auf sein Gitter. „Ich kapier’s immer noch nicht.“
Gladys seufzt. „Der entscheidende Hinweis ist das sprichwörtlich. Damit ist das Buch der Sprüche gemeint. Aus der Bibel. Kapitel dreizehn, Vers zwölf.“
„Da werden Sie mir jetzt unter die Arme greifen müssen“, sagt Thomas. „Ich war nie in der Sonntagsschule.“
Gladys seufzt. „Die Hoffnung, die sich verzieht, ängstet das Herz“, sagt sie. David M. Barnett: „Miss Gladys und ihr Astronaut“, Roman, aus dem Englischen von Wibke Kuhn, Ullstein Verlag Berlin, ISBN 978-3-54828954-0.