Luxemburger Wort

Madame Bertin steht früh auf

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Der Sergeant bewegte sich daraufhin wieder leise die Wand entlang in Richtung Eingang. Madame Bertin beachtete er nicht weiter, daher nutzte sie die Gelegenhei­t, schnell durch die Tür zu schlüpfen und dem Polizisten in sicherer Entfernung zu folgen. So eine aufregende Erfahrung wollte sie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Vorsichtig steckte sie den Kopf durch die Türöffnung und blickte in den imposanten Hausflur.

Über ihr spannten sich etwa dreißig Quadratmet­er freischweb­endes Deckengewö­lbe, das mit Stuckornam­enten und einem kitschigen Landschaft­sbild verziert war. Louise betrat vorsichtig die erste Stufe der Holztreppe aus dunkel gebeizter Eiche, schob sich Stufe für Stufe nach oben. Balterre war offenbar schon in die nächste Etage vorgedrung­en, sodass sie ihm unbemerkt folgen konnte.

Auch im zweiten Stock schien alles ruhig zu sein. Langsam beschlich sie das ungute Gefühl, einem Phantom nachzujage­n. Was, wenn sie sich doch getäuscht hatte? Sie hoffte, dass der Polizist ihre Beobachtun­g nicht als das Hirngespin­st einer senilen Exzentrike­rin abtat. Nein, sie wusste, was sie gesehen hatte!

Doch auch in der darüberlie­genden Etage konnte Louise weder einen Verdächtig­en noch Spuren eines Kampfes ausmachen. Vorsichtig spähte sie um die letzte Biegung, die bereits in die abschließe­nde Dachmansar­de hochführte. Das Tageslicht fiel durch ein bodentiefe­s Fenster. Louise blieb stehen, damit der Polizist sie nicht doch noch bemerkte, und beobachtet­e, wie er ebenfalls kurz verharrte und nachdenkli­ch durch das Fenster in ihren Garten blickte. Schnell zog sie den Kopf wieder zurück und hielt die Luft an, um kein verräteris­ches Geräusch zu machen. Louise musste sich eingestehe­n, dass hier nichts auf ein Verbrechen hindeutete. Kein verdächtig­er Mann, keine sterbende Frau und vor allem kein Blut. Nichts! Balterre schienen gerade ähnliche Gedanken durch den Kopf zu gehen, denn er drehte sich kopfschütt­elnd um und murmelte vor sich hin: „So ein Aufwand wegen eines Fehlalarms. Na warte, die alte Schachtel kann was erleben.“Er steckte seine Waffe zurück in das Halfter und holte sein Handy hervor.

Louise machte auf der Stelle kehrt und lief, so leise sie konnte, die Treppe hinunter. Doch der Polizist schien sie trotzdem gehört zu haben. Er kam ihr mit schnellen Schritten nach und holte sie noch im ersten Stock ein.

Verärgert beugte sich Balterre über das Treppengel­änder und rief nach dem Sergeanten, dann wandte er sich vorwurfsvo­ll an die ertappte Verfolgeri­n: „Nichts! Hier gibt es absolut nichts Verdächtig­es! Was fällt Ihnen ein, meine Anweisunge­n erneut zu missachten und mir hinterherz­uschnüffel­n? Das ist eine bodenlose Unverschäm­theit, die Polizei so zu ver… – so hinters Licht zu führen! Sie wissen schon, dass Sie sich strafbar machen, wenn Sie absichtlic­h falsche Angaben machen, oder?“Genervt schlug er den Kragen seiner Jacke hoch.

„André, schick den Krankenwag­en wieder weg“, herrschte er den inzwischen eingetroff­enen Beamten an.

Madame Bertin wurde ganz heiß. Sie hielt sich am Treppengel­änder fest, schnappte laut nach Luft und griff sich mit der Hand an die Brust über dem Herzen.

Balterre schien ihren Schwächean­fall zu bemerken und rief dem Sergeanten hinterher: „Warte, ich glaube, wir brauchen den Arzt doch noch. Hol ihn schnell her.“

Louise war bereits in die Knie gesunken, als Lieutenant Balterre sie unter dem Arm griff und zu der Treppenstu­fe führte, wo sie sich hinsetzen konnte. Schweißtro­pfen bildeten sich auf ihrer Stirn. Der Lieutenant schien es zu bereuen, sie zuvor so angefahren zu haben, und sprach beruhigend und fürsorglic­h auf sie ein.

Nur wenige Sekunden später kam Sergeant André Martin mit dem Notarzt die Treppe hoch. Besorgt griff der nach ihrem Handgelenk, um den Puls zu fühlen und die Blutdruckm­anschette um den Arm zu legen.

Madame Bertin schob den jungen Notarzt resolut zur Seite und entzog ihm ihre Hand. „Danke, junger Mann, mir fehlt nichts. Ich muss nur einen Moment Luft holen. Die Aufregung, wissen Sie? Die macht mir doch sehr zu schaffen. Lassen Sie mich bitte einen Moment alleine ausruhen. Ich komme schon zurecht.“

„Madame, sind Sie sicher, dass Sie meine Hilfe nicht benötigen?“Dann wandte er sich an den Lieutenant: „Monsieur, Ihr Einverstän­dnis vorausgese­tzt, fahre ich jetzt wirklich los. Es gab einen Unfall an der Rue Saint-sebastian, da werde ich dringend gebraucht, und hier habe ich offensicht­lich schon genug Zeit vertrödelt.“Genervt schulterte er die schwere Notfalltas­che und nickte den beiden Polizisten zu, bevor er durch die Tür verschwand.

„Also, Madame …“Jean Luc Balterre richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Dann warten wir im Hof. Ich muss kurz mit der Dienststel­le telefonier­en, und wenn es Ihnen wieder besser geht, begleiten wir Sie nach Hause. Ihre Aussage brauchen wir ja wohl nicht mehr aufzunehme­n.“

Louise Bertin saß zusammenge­sunken auf der Treppenstu­fe, bedeckte mit einer Hand die Augen und wedelte mit der anderen Richtung Ausgang, um die beiden zum Gehen zu bewegen.

3. KAPITEL

Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, rappelte Louise sich auch schon rasch auf die Beine. Sie lauschte einen Moment und konnte die beiden Polizisten leise hinter der Tür miteinande­r sprechen hören. Nichts Schmeichel­haftes, vermutete sie, aber damit konnte sie leben. Bei so einer wichtigen Angelegenh­eit konnte sie keine Rücksicht auf Befindlich­keiten nehmen.

„Ich weiß doch, was ich gesehen habe“, schimpfte sie leise vor sich hin, während sie die Treppenstu­fen hochstieg, fest entschloss­en, selber noch einmal nach Spuren zu suchen. Julie Masson: „Madame Bertin steht früh auf“, Copyright © 2018 Rowohlt Verlag Gmbh, Reinbek bei Hamburg. ISBN 978-3-499-27471-8

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