Die Trümmerfrauen
Die Chefinnen von CDU und SPD müssten eigentlich ihre Parteien retten – aber sie stehen selbst mit dem Rücken zur Wand
„Scheiße“, sagt am Montagabend eine Spd-ministerin. Man kann es gut hören – aber eigentlich ist das Wort nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Trotzdem wäre die wirkliche Überraschung, wenn die Ministerin jetzt nicht „Scheiße“sagen würde. Gerade hat sie zwei Stunden lang versucht Optimismus zu verbreiten, ihrer Partei eine Zukunft prophezeit – und das ist mehr, als selbst viele ihrer Genossinnen und Genossen gerade über sich brächten –, und dann ploppt plötzlich auf allen Smartphones in der Runde die Nachricht auf: Andrea Nahles stellt die Machtfrage.
Flucht nach vorn
Genau genommen wird zwar gemeldet, dass die Spd-chefin die Fraktionsvorsitzendenwahl vom turnusgemäßen September-termin vorzieht auf kommenden Dienstag. Aber alle im Raum – und viele in der Republik – wissen, dass es in Wahrheit darum geht, ob Nahles weiter zugetraut wird, die SPD aus der tiefsten Krise ihrer 156-jährigen Geschichte zu bugsieren. Oder ob sie nach nur zwanzig Monaten von der Parteispitze abtreten muss. Die deutsche Sprache hat für Nahles’ Schritt ein sehr klares Bild: Flucht nach vorn. Wer die antritt, hat nichts mehr zu verlieren. Ein „fast“können Nahles und ihre Partei gerade noch beanspruchen; mehr nicht.
So weit ist es für Annegret Kramp-karrenbauer nicht. Sie ist ja noch kein halbes Jahr Cdu-vorsitzende. In dieser kurzen Zeit hat sie – selbst eingestanden – den Europa-wahlkampf vergeigt, nicht nur die Fridays-for-future-bewegung und die digitale Community gegen sich und die CDU aufgebracht, sondern gleich auch noch die eigene Parteijugend; und nun zusätzlich den Eindruck erweckt, sie wolle Kritikern den Mund verbieten – zumindest vor Wahlen, zumindest im Internet. Der Shitstorm kommt prompt – und die Tweets reichen von einem lässigen „Ach lass doch der CDU das Vergnügen, einen weiblichen Seehofer zu haben …“bis zu einem harschen „Das ist jetzt, glaube ich, ein ganz guter Moment zurückzutreten, Annegret“.
Zusammengenommen stecken die zwei großen der drei deutschen Regierungsparteien am zweiten Tag nach der Europawahl in veritablen Führungskrisen. Sie selbst haben sich hineinlaviert. Allerdings hat die SPD dafür Jahre gebraucht, der CDU genügten Monate. Und die politische Konkurrenz lacht sich ins Fäustchen.
Doch bei allen Fehlern von Nahles und Kramp-karrenbauer: Ein großer Rest der Sozial- und der Christdemokraten macht sich auf Kosten der Chefinnen gerade den sprichwörtlichen schlanken Fuß. Und dann sind da noch die anderen, die aus den Dilemmata der beiden nur zu gern ihren persönlichen Vorteil zögen.
Nahles stellt ja nicht ohne Anlass die Vertrauensfrage. Seit Wochen wabern Gerüchte durchs Berliner Regierungsviertel, dass diverse Genossen auf ihre Ablösung hinarbeiten. Fast alles, was etwa ihre direkten Vorgänger als Parteivorsitzende, Sigmar Gabriel und Martin Schulz, in Tv-mikrofone und Journalistenblöcke diktieren, ist nicht anders zu verstehen denn als Demontageversuch. Am Wahlabend dann spricht Nahles’ Generalsekretär Lars Klingbeil von Putschfantasien, nennt sie „Rituale alter Politik“– und warnt: „Hört auf mit diesen Spielen!“
Es nützt aber nichts. Statt sich schleunigst um eine saubere Fehleranalyse zu kümmern, statt sich zu fragen, wieso man den Wählern die Grundrente verkaufen wollte, wenn alle Welt vom Klimaschutz redet – bleibt die SPD mit sich selbst beschäftigt. Und auch die CDU lädt lieber zur Aussprache über „Asymmetrische Wahlkampfführung“in Klausur, statt sich Gedanken darüber zu machen, wie lange es noch gut gehen kann mit einer Vorsitzenden, die zwar redet, aber nichts zu sagen hat – auch, weil es da ja noch die Kanzlerin gibt.
Schulz bringt sich in Stellung
„Diese Frau“nennt Martin Schulz Angela Merkel in einem Interview mit der „Zeit“, das am Morgen nach Nahles’ Vorstoß erscheint; das ganze Gespräch ist eine einzige Bewerbungsrede, mindestens um den Fraktionsvorsitz. Die Frage aber, ob er gegen Nahles antreten wird, beantwortet Schulz nicht. Stattdessen fordert er, die Wahl im September zu belassen und lamentiert, dass in der SPD immer „viel zu viele ständig dabei sind, Intrigen zu schmieden“. Schulz kennt diese Neigung gut; er war, während und nach seiner Zeit als Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl 2017, Opfer – und er ist nun Agierender. Aber auch Nahles hat 30 Jahre Spd-erfahrung – und hält dagegen.
So tiefe Einblicke lässt die CDU traditionell nicht zu; auf steigenden Druck reagiert sie üblicherweise mit einer Art Schulterschlussautomatik. Dass aber nun der engste Vertraute der Vorsitzenden von einem ihrer Widersacher auf Facebook gleichsam zum Abschuss freigegeben wird, dass der Ju-vorsitzende die Parteizentrale öffentlich beschuldigt, „völlig versagt“zu haben: Das offenbart, dass die Panik auch bei den Christdemokraten grassiert.
Nicht belegt ist, ob am Montag auch Cdu-minister ihrem Frust freien Lauf gelassen haben und ob die Parteien schon begriffen haben, wie sehr sie wanken. Und dass nicht erst und schon gar nicht allein die aktuellen Chefinnen schuld daran sind.