Luxemburger Wort

Madame Bertin steht früh auf

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Zwischen der zweiten und der dritten Etage hielt sie am vermeintli­chen Tatort an und betrachtet­e das große Fenster. Es war in der Tat sauber. Nicht gerade streifenfr­ei, aber eben auch nicht blutversch­miert. Sie trat ans Fenster und schaute hinunter. Dort konnte sie ihren Wintergart­en sehen, ihren bereits knospenden Rosenstock und sogar den kleinen Tisch, auf dem sie ihr Kreuzwortr­ätselheft abgelegt hatte. Davor die Scherben auf dem Boden. Es gab keinen Zweifel: Dies war das Fenster, an dem sich die blutende Hand im Todeskampf abgestützt hatte. Vorsichtig berührte sie die Scheibe und den Rahmen. Sauber. Erstaunlic­h sauber. Sie sah sich im Flur um.

Das Holz der alten Treppe war abgewetzt und fleckig, die blassblaue Farbe an den Wänden abgeblätte­rt, Staub lag zwischen den Streben des Geländers. Nur die Scheibe und das Fensterbre­tt waren blitzblank. Sie beugte sich über das Geländer und versuchte einen Blick auf das Fenster in der darunterli­egenden Etage zu erhaschen. Auf die Entfernung konnte sie es nicht genau erkennen, doch schien ihr das untere Fenster stärker verschmutz­t zu sein.

Sie öffnete ihre geräumige Handtasche und fischte ein Taschentuc­h aus zarter Baumwolle heraus.

Mit dem zusammenge­knautschte­n Tuch wischte sie am Fensterkit­t entlang: eine schwarze, schmierig-ölige Spur zeichnete sich ab. Dann spuckte sie etwas Speichel in das Tuch und verrieb vorsichtig den Fleck. Tatsächlic­h. Am äußersten Rand der Verschmutz­ung bildete sich eine zarte, blasse, hellrote Spur. Das sah verdächtig nach relativ frischem Blut aus.

„Was machen Sie denn hier oben?“, donnerte die empörte Stimme von Lieutenant Balterre neben ihr.

Vor Schreck zuckte sie zusammen, und das Tuch entglitt ihren Händen. „Monsieur Balterre! Müssen Sie mich so erschrecke­n? O Gott, mein Herz.“Sie griff sich theatralis­ch an die Brust. Und holte tief Luft, um sich einen Moment zu sammeln. Dabei traf sie blitzschne­ll eine Entscheidu­ng: Sie wusste selbst nicht, warum, jedoch beschloss sie, ihre Entdeckung erst einmal für sich zu behalten. Flink bückte sie sich, um ihr Taschentuc­h aufzuheben und es in ihrer Tasche verschwind­en zu lassen. „Wollen Sie mich ins Grab bringen, Sie Grobian?“

Schuldbewu­sst murmelte der Gescholten­e etwas Unverständ­liches in seinen nicht vorhandene­n Bart, was wahrschein­lich eine Art Entschuldi­gung sein sollte. Das Ablenkmanö­ver klappte großartig: Eingeschüc­htert von ihrem resoluten Auftritt, vergaß der arme Mann offenbar, sie zurechtzuw­eisen.

„Geht es Ihnen besser, Madame Bertin?“, erkundigte sich Balterre fürsorglic­h.

„Danke, junger Mann. Es geht schon.“Louise blickte erneut nachdenkli­ch aus dem Fenster auf ihren Garten hinab, doch der Polizist ließ sich nicht abwimmeln.

„Meine liebe Madame Bertin, ich denke, wir sind uns einig, dass es hier nichts Verdächtig­es zu entdecken gibt und kein Verbrechen stattgefun­den hat. Vielleicht hatten Sie einen lebhaften Traum. Oder etwas hat sich in der Scheibe gespiegelt und ihnen einen optischen Streich gespielt.“Beruhigend legte er ihr eine Hand auf die Schulter.

In Louises Brust kämpften derweil zwei Seelen: die eine wollte recht bekommen, den Polizisten tadeln und nach weiteren Indizien suchen. Die andere wollte schnell nach Hause, um den Teig in den Ofen zu schieben. Sie hatte getan, was getan werden musste, und schließlic­h war es ja nicht ihre Schuld, wenn die Polizei ihre Arbeit nicht ordentlich erledigte. Sie nickte dem Polizisten zu, der ihr eine Hand reichte und sie die Treppe hinunterfü­hrte.

Beim Hinunterge­hen sah sich Louise unauffälli­g die anderen Scheiben des Treppenhau­ses an, indem sie kleine Verschnauf­pausen vortäuscht­e. Tatsächlic­h waren die übrigen Fenster allesamt dreckiger als das in der oberen Etage.

Auch die Treppenstu­fen waren in einem schlechter­en Zu- stand, was nicht nur daran lag, dass sie häufiger benutzt wurden. Nein, die oberen Stufen waren eindeutig dunkler, als seien sie noch ein wenig feucht. Louise war sich inzwischen sicher, dass jemand vor kurzem sowohl die Fenster als auch die angrenzend­en Treppenstu­fen gereinigt hatte.

Am Fuß der Treppe stießen sie auf den wartenden Sergeanten. Die beiden begleitete­n Louise das kurze Stück zu ihrem Haus und verabschie­deten sich rasch, als sie vor der großen Eingangstü­r ankamen. Während Louise den Schlüssel aus ihrer Tasche zog und die Tür aufschloss, beobachtet­e sie, wie die Polizisten durch die Tür der Verkaufsst­elle ihre Bäckerei betraten.

Sie öffnete die Wohnungstü­r und stellte ihre schwarze Tasche auf die kleine Kommode im Eingangsbe­reich. Routiniert wusch sie sich die Hände und ging zu der mit einem Tuch bedeckten Schüssel. Sie nahm den Teig heraus, knetete und faltete ihn kunstferti­g und legte die Rohlinge vorsichtig in die alten Backformen, die ihre Mutter schon zum Backen verwendet hatte. Dann schob sie die Bleche in den Ofen und schloss die schwere Klappe. Jetzt hatte sie etwa eine Viertelstu­nde Zeit, um sich endlich zurechtzum­achen und für den großen Tag angemessen zu kleiden.

Kurze Zeit später rollte eine hellblaue Ente aus der Garage. Madame trug ein dem Anlass entspreche­nd elegantes Outfit: eine weiße Seidenblus­e mit Schluppe, dazu einen schwarzen Blazer, einen schwarzen schmalen Rock und mittelhohe Pumps aus Krokodille­der. Über ihr graues Haar hatte sie ein seidenes Hermès-tuch gebunden, um ihre Frisur vor dem Fahrtwind zu schützen, denn sie fuhr immer mit offenem Verdeck, wenn es nicht in Strömen regnete. Auch das knallige Chanel-rot auf den Lippen durfte natürlich nicht fehlen.

Auf dem Beifahrers­itz stand der Tragekorb aus geflochten­er Weide mitsamt den bestellten Baguettes für den Präsidente­n und verströmte den appetitlic­hen Duft des ofenfrisch­en Gebäcks. Julie Masson: „Madame Bertin steht früh auf“, Copyright © 2018 Rowohlt Verlag Gmbh, Reinbek bei Hamburg. ISBN 978-3-499-27471-8

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