Das erste Opfer
Primoz Roglic konnte der Attacke von Vincenzo Nibali auf der 16. Etappe des Giro d'italia nicht folgen
Vincenzo Nibali hatte es angedeutet. Er wolle in der dritten und entscheidenden Woche des 102. Giro d'italia zum Angriff übergehen, um am kommenden Sonntag in Verona das Rosa Trikot und die Trophäe Senza Fine in Empfang zu nehmen. Der 34-jährige Publikumsliebling kann sich auf seine Erfahrung und die Gewissheit verlassen, in der Vergangenheit die Italien-rundfahrt bereits in der Schlussphase entschieden zu haben. 2016 gewann er das Rennen trotz eines Rückstands von 4'43'' vor den letzten beiden Bergetappen, 2013 war er mit zwei Etappensiegen in der letzten Woche ebenfalls bärenstark.
Nun wollte er aus der dritten Position in der Gesamtwertung heraus wieder angreifen: Gestern führte die erste Attacke des Hais von Messina bereits zu einem Opfer. Primoz Roglic (Slo/jumbo) büßte 1'22'' auf Nibali ein und wurde vom Italiener in der Gesamtwertung auf Rang drei verdrängt.
Der Slowene avancierte zum Verlierer des Tages: Hatte er in den vergangenen Tagen bereits leichte Schwächen angedeutet, so konnte der ehemalige Skispringer diese gestern auf dem sehr anspruchsvollen Teilstück zwischen Lovere und Ponte di Legno, das auch ohne den zu befahrenden Gaviapass die Fahrer bei Dauerregen und Kälte vor eine echte Probe stellte, nicht mehr verbergen.
Der zweifache Giro-gesamtsieger Nibali hatte sich natürlich den Passo del Mortirolo als Bühne seines Angriffs ausgesucht. Seit 1990, als der Anstieg zum ersten Mal in Angriff genommen wurde, hat er sich quasi im Handumdrehen einen Furcht einflößenden Ruf erarbeitet: Die 11,9 km zählen zu den schwierigsten Passagen in ganz Italien. Der Passo del Mortirolo gehört in eine Kategorie mit dem Giulio Ciccone feierte seinen Erfolg ausgiebig. Stelviopass, dem Monte Zoncolan und dem Gaviapass. Seine absolute Höhe von nicht einmal 2 000 m wirkt wenig bedrohlich, doch die Steilrampen von bis zu 18 Prozent sind es umso mehr. Gestern stand der Riese zum 14. Mal im Giro-programm. Auch die diesjährige Ausgabe geht in die Geschichtsbücher ein.
Carapaz ganz stark
Bis zum Fuß passierte recht wenig. Während sich eine große Ausreißergruppe an der Spitze um den Tagessieg bemühte, aus der sich Giulio Ciccone (I/trek), der Führende in der Bergwertung, letztendlich im Duell mit dem ehemaligen Leopard-fahrer Jan Hirt (Cze/astana) durchsetzte, zündete Nibali 35,5 km vor dem Ziel den Turbo. Ein kurzer Blick nach hinten und ab ging die Post.
Nibali stiefelte davon. Sein Angriff hatte Folgen: Roglic war geschlagen, und mit ihm Bauke Mollema (Nl/trek), Rafal Majka (Pl/bora) und Simon Yates (Gb/mitchelton), die allesamt nicht mehr zum Bahrain-meridakapitän aufschließen konnten.
Ganz anders Richard Carapaz. Der Träger des Rosa Trikots wehrte alle Attacken ab und konnte seine Führung wegen Roglics Schwächeln gar ausbauen. Gestern bewies der Ecuadorianer des Movistar-teams aus welchem Holz er geschnitzt ist. Zunächst sah es so aus, als müsse auch er Nibali ziehen lassen. Doch der 25-Jährige hatte sich seine Kräfte gut eingeteilt. Am Gipfel hatte er die kleine Lücke zusammen mit dem sehr starken Hugh Carthy (Gb/education First), Mikel Landa (E/movistar) und Miguel Angel Lopez (Col/astana) geschlossen. Auch in der gefährlichen, weil sehr nassen Abfahrt ließ sich Carapaz nicht abschütteln. Das Ziel passierte er zeitgleich mit Nibali. Sie sind derzeit die beiden stärksten Fahrer im Peloton. Der Italiener muss sich für die kommenden Tage etwas einfallen lassen. Will er den Giro d'italia gewinnen, muss er den Südamerikaner auf den drei noch verbleibenden Bergetappen abhängen. Das wird schwierig, aber nicht unmöglich. Nibali hat vermutlich noch ein paar Pfeile im Köcher.