Die Fotografie in Zeiten des Selfies
Neimënster gibt Raum für eine der zahlreichen Ausstellungen des European Month of Photography
„Selfie Harm“– so nannte der britische Fotograf Rankin seine Porträt-serie, die Anfang des Jahres international für Entsetzen sorgte. Der Fotograf porträtierte Teenager und bat sie anschließend, die Aufnahme so zu „verschönern“, dass sie sie auf ihren Social-media-kanälen nutzen würden. Das Ergebnis: Die jungen Menschen wurden zu einer immer gleichen Maske, die alle Individualität ausmerzte wie Unkraut im Garten. Dass solche Projekte Konjunktur haben, verwundert nicht angesichts des Bedeutungswandels der (Selbst-)porträtfotografien in den vergangenen Jahren.
Die Frage nach den Folgen dieser Bilderflut ist die inhaltliche Klammer der Ausstellungen, mit denen das Kulturzentrum Neimënster sich bis 16. Juni am European Month of Photography (EMOP) beteiligt. Das diesjährige Leitmotiv ist der menschliche Körper in der zeitgenössischen Fotografie – ein weites Feld. Denn der Mensch, sein Gesicht und sein Körper gehören zwar seit Anbeginn der Fotografie zu den wichtigen Motiven – doch mit dem Siegeszug der Smartphones und der steten Möglichkeit eines Instantselbstporträts ist ein neues Kapitel in dieser Geschichte aufgeschlagen.
Wie hoch der Druck eines „perfekten“Aussehens in einer auf Social Media fixierten Gesellschaft sein kann, hat die Fotografin Corinne Mariaud in ihrer Fotoserie „Fake I Real Me“. In Singapur, Seoul und Tokyo hat sie junge Menschen fotografiert, die durch Operationen, Make-up und gefärbte Haare die Selbstoptimierung nicht nur per Fotofilter, sondern am tatsächlichen Körper betreiben: Mit zugespitzen Gesichtern in angesagter V-linie, augenvergrößernden Kontaktlinsen und eine zur porenlosen Latexmaske verfeinerten Haut blicken die ins Über- und Unnatürliche manipulierten Gesichter geradeaus in die Linse und lassen die vermeintliche Perfektion immer wieder ins Monströse kippen.
Neue Betrachtungsperspektiven
Cristina Dias de Magalhães dreht in ihrer Reihe „L'autre-portrait & Embody“den Spieß wortwörtlich um: Die Porträtierten sind von hinten fotografiert und geben nichts von dem preis, was man für gewöhnlich von einem Porträt erwarten würde – sie bleiben ohne Gesicht.
Die eingeübten Blicke der Betrachter wandern zunächst ins Leere. Man ist gezwungen, die Betrachtung neu einzuüben und wird überrascht sein, welche Details ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, wenn die tradierte Hierarchie des Sehens unterbrochen ist.
Im Kreuzgang der Abtei ist mit „Regards sans limites / Blick ohne Grenzen“eine grenzüberschreitende Gruppenausstellung zu sehen, die anschließend auch in Deutschland und Frankreich gezeigt werden wird. Die drei jungen Fotografen haben das diesjährige Stipendium zur Förderung junger Fotografie in der grenzüberschreitenden Großregion erhalten und präsentieren ihre erfreulich vielfältigen Arbeiten. Robert-schuman-preisträger Thilo Seidel (Saarbrücken) studiert in seinen Arbeiten die besonderen Eigenschaften von Oberfläche und Raum am Beispiel eines Hallenbads, Florian Glaubitz (Mainz) spinnt um den Herstellungsprozess von Keramik eine facettenreiche fotografische Erzählung, und Sylvie Felgueiras schließlich schließt den Kreis mit einer Serie zu jenen persönlichen Erinnerungsfotos aus Vor-selfie-tagen, die Menschen im Portemonnaie mit sich führen.
Mit Pierre Coulibeufs experimenteller Videoarbeit „Warriors of Beauty“nach einer Choreographie von Jan Fabre ist auch das Medium Film bei dieser Auflage des EMOP vertreten. Eine kompromisslose Installation unter Rückgriff auf universelle menschliche Fragen, die einige Besucher verstört haben dürfte – am Eingang prangt jetzt ein Warnhinweis. Arbeiten von Corinne Mariaud, Pierre Coulibeuf, Cristina Dias de Magalhães, Florian Glaubitz, Thilo Seidel und Sylvie Felgueiras bis 16. Juni in Neimënster, 28, rue Münster, Luxembourg, Öffnungszeiten: Montag bis Freitag: 8 bis 18 Uhr, Samstag und Sonntag von 10 bis 18 Uhr.