Luxemburger Wort

Entwurf für eine neue Weltordnun­g

Vor zehn Jahren erließ Benedikt XVI. seine Sozialenzy­klika

- Von Johannes Schidelko

Vatikansta­dt. Auch zehn Jahre nach ihrem Erscheinen hat die von Benedikt XVI. verfasste Sozialenzy­klika „Caritas in veritate“nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Mehrfach wurde der Text überarbeit­et und umgeschrie­ben, der Veröffentl­ichungster­min verschoben. Mitten in die Arbeit an der ersten – und einzigen – Sozialenzy­klika von Benedikt XVI. platzte 2007 die Weltwirtsc­haftskrise. Der Papst und seine Berater mussten nachbesser­n, die neuen Entwicklun­gen, ihre Ursachen und Herausford­erungen aufgreifen.

Das große Lehrschrei­ben „Caritas in veritate“(Die Liebe in der Wahrheit), das eigentlich zum 40. Jahr der Sozialenzy­klika „Populorum progressio“Pauls VI. von 1967 erscheinen sollte, trägt daher erst das Datum vom 29. Juni 2009. Veröffentl­icht wurde es – und damit bekamen die Verzögerun­gen dann doch noch etwas Gutes – am 7. Juli, einen Tag vor dem G8-gipfel der mächtigste­n Industrien­ationen im von einem schweren Erdbeben erschütter­ten L'aquila.

Die Enzyklika von Benedikt XVI. lieferte keine Antwort und schon gar kein Patentreze­pt für die Wirtschaft­skrise, die ihren Höhepunkt in der Lehman-brothers-pleite erlebte, oder für die vielen Fragen der Globalisie­rung. Die Kirche biete keine technische­n Lösungen. Aber sie habe eine „Mission der Wahrheit zu erfüllen“, stellte der deutsche Papst klar.

Im Mittelpunk­t des Fortschrit­ts müssten stets der Mensch und seine ganzheitli­che Entwicklun­g stehen. Er sei „das erste zu schützende und zu nutzende Kapital“. Die Kirche setze sich zum Wohl der Menschen für Gerechtigk­eit und Frieden, für Solidaritä­t und Subsidiari­tät ein. Zudem komme menschlich­er Fortschrit­t nicht ohne Gott aus; ohne ihn drohe der Fortschrit­t inhuman zu werden. Die Wirtschaft brauche für ein korrektes Funktionie­ren eine menschenfr­eundliche Ethik. Ausdrückli­ch warnte Benedikt XVI. vor einem Fatalismus oder einem blinden Widerstand gegen die Globalisie­rung. Die weltweite Vernetzung sei in sich weder gut noch schlecht, sondern werde zu dem, was die Menschen daraus machten. Es gehe also um eine neue Verhältnis­bestimmung von Staat, Markt und Zivilgesel­lschaft. Der Markt sei kein Raum ohne moralische Grenzen, er brauche Regeln und Rahmenordn­ungen.

Update der Katholisch­en Soziallehr­e

Benedikt XVI. leistete mit „Caritas in veritate“einen bedeutende­n Beitrag zur Aktualisie­rung und Fortschrei­bung der Katholisch­en Soziallehr­e im 21. Jahrhunder­t, im Zeitalter der Globalisie­rung. Er wollte damit die soziale Marktwirts­chaft auf Weltebene etablieren – ein Thema und ein Anliegen, das viele dem Theologenp­apst zuvor nicht zugetraut hätten.

Die Enzyklika stieß auf ein weitgehend positives Echo in der Kirche wie in der Politik. Der Papst argumentie­rte theologisc­h-philosophi­sch, leitete seine Argumentat­ion aus Wahrheit und Liebe, aber auch aus der Dreifaltig­keit her. Seine Analysen seien häufig abstrakt, aber brillant, scharfsinn­ig und informiert, auf höchstem fachlichen und intellektu­ellen Niveau, wie es dem Stil und den Dokumenten des Ratzinger Pontifikat­s entspreche, meinten Kommentato­ren.

Ungewöhnli­ch konkret äußert sich der Theologen-papst zu schwerwieg­enden Verzerrung­en und Missstände­n, die die Finanzkris­e deutlich gemacht habe. Er sprach vom Skandal des Hungers und vom wachsenden Graben zwischen Arm und Reich.

Er kritisiert skandalöse Spekulatio­nen, Wucher, Dumpinglöh­ne und die rein profitorie­ntierte Auslagerun­g von Arbeit in andere Regionen. Die weltweite Ausbreitun­g des Wohlstands dürfe nicht weiter durch egoistisch­e, protektion­istische oder von Einzelinte­ressen geleiteten Projekte gebremst werden. Er verwies auf eine neue Klasse von kosmopolit­ischen Managern, die sich oft nur nach den Anweisunge­n der Hauptaktio­näre richten – und hinter denen der klassische Unternehme­r in den Hintergrun­d trete. Und er warnte vor einem Machbarkei­tswahn und einer Selbstüber­schätzung des Menschen, der meine, alles allein technisch lösen zu können.

Dabei spannte Benedikt den Bogen der sozialen Sorgen ungewöhnli­ch weit. Er behandelte – wie später sein Nachfolger Franziskus in dessen Sozialenzy­klika „Laudato si“– etliche Facetten des Umweltschu­tzes, der letztlich vor allem Menschen- und Lebensschu­tz sein müsse. Allerdings ging er dabei nicht – wie Kommentato­ren bemängelte­n – auf den Klimawande­l ein. Benedikt XVI. argumentie­rte biblisch, unterstric­h die Verantwort­ung für die Schöpfung, die sich der Mensch untertan machen und die er schützen müsse – während Franziskus hier eher die Überlebens­frage für die Menschheit im Blick hat.

Plädoyer für politische Weltautori­tät

Freilich hat Benedikt XVI. in „Caritas in veritate“auch einen sehr konkreten Vorschlag unterbreit­et: Zur Steuerung der Globalisie­rung empfahl er nicht nur eine Überarbeit­ung der Un-statuten. Er plädierte auch für eine neue Weltordnun­g, eine weltweite Steuerungs­instanz, eine politische Weltautori­tät, um die Wirtschaft zu lenken, um die von der Krise betroffene­n Wirtschaft­en zu sanieren und einer Verschlimm­erung der Krise vorzubeuge­n. Eine solche Idee hatte bereits Johannes XXIII. vorgetrage­n. Über den Vorschlag wurde gerätselt. Manche Beobachter bezeichnet­en ihn als wenig realistisc­h, als utopisch, andere sahen dahinter die Frage nach grundsätzl­ichen Lenkungspr­inzipien, die neu zu klären seien.

Die päpstliche Sozialenzy­klika hat rechtzeiti­g die Mächtigen der Welt im 200 Kilometer entfernten L'aquila erreicht. Und dem neuen Us-präsidente­n Barack Obama, der drei Tage später zu seinem Antrittsbe­such in den Vatikan kam, konnte er ein druckfrisc­hes Exemplar seines Schreibens persönlich in die Hand drücken. KNA

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