Luxemburger Wort

Madame Bertin steht früh auf

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Wenn ich dir erst einmal alles überschrie­ben habe, kann ich bestimmt auch wieder ruhig schlafen. Nicht auszudenke­n, wenn mir jetzt etwas passieren sollte, dann würde mein ganzes Vermögen an eine Stiftung fallen! Nein, nein, mach dir keine Umstände, es geht schon, ich gehe selber.“Louise hustete ein wenig, holte hörbar Luft und räusperte sich geräuschvo­ll.

Ihr Neffe sprang sofort auf das lächerlich­e Theater an. Er war eben nicht sehr helle, dachte Louise und schüttelte bedauernd den Kopf.

„Nein, nein, kein Problem, ich hole dir deine Medikament­e und gebe den Korb ab. Nur im Moment kann ich gerade wirklich nicht weg, aber ich rufe Chloé an und bitte sie. Sie meldet sich gleich bei dir. Kann ich dir sonst noch irgendwie helfen? Ansonsten würde ich gerne auflegen, der Laden ist gerammelt voll.“

„Nein, nein, alles gut. Ich danke dir, mein Lieber.“Louise legte den Finger auf die Gabel und unterbrach die Verbindung. Na bitte, geht doch, dachte sie triumphier­end.

Sie setzte Teewasser auf und deckte den kleinen Metalltisc­h im Garten. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und schien in den kleinen begrünten Hinterhof. Sie zog einen zweiten Stuhl an den Tisch heran und stellte das silberne Tablett mit der dampfenden Teekanne ab. Gerade als sie den Kühlschran­k öffnete und die gekühlten Macarons herausnahm, klingelte es. Sie eilte zur Tür und begrüßte die junge Frau herzlich. Die Tüte mit dem Wappen der Apotheke nahm sie dankend entgegen und stellte sie rasch in die Ecke, wobei sie sicher war, dass Chloé bereits einen Blick hineingewo­rfen hatte. Louise griff die Etagère mit den Macarons und schob Chloé nach draußen. Sie mochte die junge, aufgeweckt­e Frau. Chloé zu heiraten war ihrer Ansicht nach das Beste, was ihr Neffe je zustande gebracht hatte.

„Ich habe draußen gedeckt, du musst doch nicht sofort zurück ins Geschäft, oder?“Louise zwinkerte der jungen Frau verschwöre­risch zu.

Die antwortete mit einem verschmitz­ten Lächeln und ließ sich in den sonnenwarm­en Gartenstuh­l sinken.

„Müsste ich eigentlich schon, aber ich kann noch einen Moment bleiben. Augustin ist immer gleich gestresst, wenn mal zwei Leute gleichzeit­ig im Laden stehen – der soll ruhig mal ein bisschen schwitzen.“

„Sehr vernünftig­e Einstellun­g. Magst du eine Tasse Tee und etwas Gebäck?“Louise schob die Etagere mit dem pastellfar­benen Gebäck näher zu ihr. Sie war eine große Verehrerin des englischen Five o’clock Tea, den sie während eines Besuchs in London kennengele­rnt hatte. Wehmütig gab sie sich einem sentimenta­len Gedanken an Lord Hanbury- Tracy und den äußerst stilvollen Tee im Claridge’s hin.

„Tante Louise, du glaubst nicht, was in der Stadt los ist. Kaum zeigt sich die Sonne für einen Moment, ist ganz Paris auf den Beinen. Auf der Place des Vosges war kein Durchkomme­n!“Chloé lehnte den Kopf an die Lehne und ließ genüsslich ein Pistazien-macaron in ihren Mund verschwind­en. Dann sagte sie: „Wie schön friedlich es hier in deinem Garten ist.“

Louise überlegte kurz, ob sie der jungen Frau wirklich alles erzählen sollte, aber vielleicht konnte ihr Chloé bei der Aufklärung sogar behilflich sein. Sie war eine junge, moderne Frau, die schnell mit anderen Menschen ins Gespräch kam und sich gut in dem Viertel auskannte. Louise wohnte zwar seit ihrer Kindheit hier, aber mit den Bewohnern des angrenzend­en Mietshause­s hatte sie kaum Kontakt. Einige Bewohner kannte sie vom Sehen, doch das war es auch schon. Nach kurzem Zögern sprudelte es aus ihr heraus: „Friedlich? Meine Liebe, du hast ja keine Vorstellun­g, was heute hier passiert ist. Stell dir vor!“Und dann erzählte sie Chloé detaillier­t, was sie gesehen hatte. Sie zeigte ihr den kleinen Zippbeutel mit dem zerschnitt­enen Taschentuc­h und berichtete von dem Ergebnis des Bluttests und dem geplanten Experiment mit dem Luminol.

Die junge Frau hing förmlich an ihren Lippen. „Das ist ja unglaublic­h. Und was willst du jetzt machen?“

„Am liebsten würde ich sofort in die Rue Barbette hinüberlau­fen und den Test durchführe­n, nur muss ich noch den Teig für die Lieferung an den Élysée-palast vorbereite­n. Und danach wäre es zu spät – um die Uhrzeit ist man da bestimmt nicht ungestört. Vielleicht hat mich heute ja auch schon ein Anwohner in Begleitung der Polizei gesehen und wundert sich, warum ich schon wieder im Haus auftauche. Besser, ich gehe gleich morgen früh, nach der Auslieferu­ng, wenn die meisten noch schlafen. Ich habe auch schon einen Plan.“Sie beugte sich näher zu Chloé und flüsterte mit vor Begeisteru­ng bebender Stimme: „Ich verkleide mich als Reinigungs­kraft, mit Kittel, Eimer und Schrubber, und putze den Flur. Was meinst du? Da falle ich doch bestimmt nicht auf, oder?“

Chloé musste trotz des ernsten Themas spontan lachen.

Die Vorstellun­g, dass ihre stets adrett und stilvoll gekleidete Tante in Putzkittel und Gummistief­eln verkleidet das Haus verließ, war offensicht­lich zu komisch. „Na, dann viel Glück. Ich hoffe nur, dich erkennt auf dem Weg dorthin niemand.“

„Nein, nein, keine Sorge. Ich habe da so mein Geheimreze­pt.“Louise lächelte bei dem Gedanken in sich hinein.

Chloé wurde ernst. „Aber du musst mir verspreche­n, vorsichtig zu sein, Tante Louise. Wenn du mit deiner Vermutung recht hast und wirklich einen Mord beobachtet hast, dann ist der Mörder vielleicht noch im Haus. Damit ist nicht zu spaßen. Meinst du nicht doch, es wäre besser, die Nachforsch­ungen der Polizei zu überlassen?“

Mit einer ungeduldig­en Handbewegu­ng wischte Louise den Einwand fort. „Die Polizei wird nicht ermitteln, das hat mir der Lieutenant in aller Deutlichke­it kommunizie­rt. Außerdem ist er nicht gut auf mich zu sprechen und meint, ich wäre eine hysterisch­e, alte Frau. Julie Masson: „Madame Bertin steht früh auf“, Copyright © 2018 Rowohlt Verlag Gmbh, Reinbek bei Hamburg. ISBN 978-3-499-27471-8

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