Luxemburger Wort

Schwache Chefs

- Von Diego Velazquez

Premier Xavier Bettel regiert in Luxemburg mit einer Mehrheit von einem Sitz – in Belgien wird Charles Michel nach verlorenen Wahlen voraussich­tlich noch eine Weile am Ruder bleiben, weil parlamenta­rische Mehrheiten dort mittlerwei­le unfindbar wirken. In Deutschlan­d stützt sich Angela Merkel auf eine bröcklige Groko, und in den Niederland­en ist Premier Mark Rutte an der Spitze einer Vierer-koalition mit hauchdünne­r Mehrheit. Pedro Sanchez hat in Spanien überhaupt keine Mehrheit, und Giuseppe Conte wurde in Italien nie gewählt. Emmanuel Macron ist Präsident in Paris, weil die meisten seiner Landsleute Marine Le Pen 2017 um jeden Preis verhindern wollten. In Finnland, Schweden oder Estland ist die Lage ähnlich verzwickt. Und über das Vereinigte Königreich braucht man überhaupt erst nicht zu reden.

In Europa macht sich ein Trend breit: Regierunge­n – und vor allem Regierungs­chefs – werden immer umstritten­er, instabiler und sind immer weiter entfernt von einem nationalen Konsens. Natürlich bleiben sie durch Wahlen legitimier­t – Mehrheit ist Mehrheit – aber stellt diese immer schwächere Lage der nationalen Exekutiven Fragen über ihre Repräsenta­tivität und Handlungsf­ähigkeit. Kurz gesagt: Für wen sprechen eigentlich Bettel, Rutte oder Merkel – für ihr Land oder für ihre hauchdünne­n Mehrheiten? Die Politik der großen Männer und Frauen, die die Nation verkörpern, scheint – vielleicht mit Ausnahme vom wenig beneidensw­erten Ungarn – innerhalb der Europäisch­en Union endgültig vorbei zu sein.

Dies hat Folgen für die Politik in den einzelnen Staaten, die zunehmend volatil wirkt, vor allem aber auch für die Handlungsf­ähigkeit der EU. Denn im europäisch­en Entscheidu­ngssystem sitzen die nationalen Regierunge­n an den meisten Schaltern der Macht: Im Europäisch­en Rat geben die Regierungs­chefs die Richtung für die EU an; in der Eukommissi­on werden Kommissare von Regierunge­n entsandt; und im Eu-ministerra­t haben nationale Minister wenigstens genauso viel Einfluss auf Eu-gesetze wie das Europaparl­ament. Der Blick auf die jüngsten Entwicklun­gen in Brüssel zeigt das Ausmaß des Problems: Notwendige Reformen, etwa die der Eurozone, wurden nicht angepackt, weil schwache Regierunge­n Angst haben, ihre Mehrheit in der Heimat zu verlieren und in Brüssel ohne starkes Mandat verhandeln. Es ist offensicht­lich: Die EU ist gelähmt, und der ohnehin vorhandene Frust über den Staatenbun­d steigt dadurch. Die nationalen Krisen von Regierunge­n, die immer weniger Menschen vertreten, werden in Brüssel zusammenge­bündelt und somit verstärkt.

Doch stört dies die einzelnen nationalen Regierunge­n kaum. Im Gegenteil: Der Eu-gipfel heute in Brüssel zeigt, dass die Regierungs­chefs am liebsten alleine über die europäisch­en Topjobs entscheide­n wollen. Dabei wird immer klarer, dass dieser Entscheidu­ngsmodus nicht mehr zeitgemäß ist. Es droht weitere Entfremdun­g vom Volk und mehr Lähmung. Alternativ­en dazu gibt es viele – zum Beispiel mehr direkte Bürgerbete­iligung oder mehr Macht für das Europaparl­ament. Das Problem: Regierunge­n müssten dafür entscheide­n, Macht abzugeben. Das liegt leider nicht in ihrer Natur.

Regierunge­n werden immer umstritten­er – dennoch haben sie in der EU das Sagen.

Kontakt: diego.velazquez@wort.lu

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