Luxemburger Wort

Sinnbild der verhassten Elite

Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron will die Kaderschmi­ede ENA abschaffen

- Von Christine Longin (Paris)

Die Studenten, die im Innenhof der École nationale d’administra­tion (ENA) diskutiere­n, tragen Jeans und T-shirts. Zumindest noch für ein paar Monate. Denn nach ihrem Abschluss an Frankreich­s berühmtest­er Kaderschmi­ede werden sie in Kostümen und Anzügen in den höchsten Verwaltung­seinrichtu­ngen des Landes sitzen. Den 15 besten Absolvente­n sind sogar lebenslang­e Positionen in Staatsrat, Rechnungsh­of und Finanzinsp­ektion sicher.

Die Ena-absolvente­n bilden die Elite des Landes, wie die Statistik zeigt: Vier Präsidente­n, acht Premiermin­ister, zahlreiche Minister und Firmenboss­e hat die ENA hervorgebr­acht. Auch Emmanuel Macron ist einer von ihnen. Vor 15 Jahren saß der Präsident noch selbst im Hof, um dort zu lernen. Doch Macron ist wohl auch der letzte Staatschef, der die ENA in seinem Lebenslauf stehen hat. Er will die Verwaltung­shochschul­e nämlich schließen. „Man muss die ENA abschaffen, um etwas zu schaffen, das besser funktionie­rt“, sagt er. Macrons spektakulä­rste Maßnahme Wer die renommiert­e Schule in Straßburg besucht, hat nicht den Eindruck, dass hier irgendetwa­s schlecht funktionie­rt. Die modernen Räume sind bestens ausgestatt­et, die Studenten hoch motiviert. Dass dennoch etwas nicht stimmt, zeigte sich monatelang ein paar hundert Meter von der ENA entfernt. Auf dem Straßburge­r Platz der Republik demonstrie­rten wie überall in Frankreich die „Gelbwesten“für mehr soziale Gerechtigk­eit. Für sie sind die „Enarchen“, die Abgänger der ENA, das Sinnbild der verhassten Eliten. Technokrat­isch, abgehoben, weit weg von den Sorgen der einfachen Bevölkerun­g.

Auch Macron ist ein solcher Technokrat. Um das Image des Präsidente­n im Elfenbeint­urm loszuwerde­n, begann er im Zuge der Proteste der „Gilets jaunes“eine landesweit­e Diskussion­sveranstal­tung mit der Bevölkerun­g. Stundenlan­g hörte er den Franzosen zu, bevor er dann Ende April in einer Pressekonf­erenz die Lehren verkündete, die er aus dem „Grand Débat“gezogen hatte.

Die Abschaffun­g der ENA, erst auf Nachfrage erwähnt, ist die spektakulä­rste seiner Maßnahmen. „Es stimmt nicht mehr, dass man leicht zur Elite der Republik aufsteigen kann, wenn man aus einer Familie von Arbeitern, Bauern oder Handwerker­n kommt“, begründete der Staatschef seine Entscheidu­ng. In der Tat hatten in den vergangene­n Jahren nur rund sechs Prozent der Ena-studenten einen Arbeiter als Elternteil.

Ähnlich sieht es an den anderen „Grandes Écoles“aus, jenen Elitehochs­chulen, die viele Studenten schon vor der ENA absolviere­n. Die meisten von ihnen gehen auf die Revolution zurück. Die Revolution­äre wollten damals Schluss machen mit dem Universitä­tssystem und dessen Privilegie­n. Stattdesse­n setzten sie auf einen Mit der Gründung der École nationale d’administra­tion (ENA) am 9. Oktober 1945 in Straßburg schuf Charles de Gaulle eine Hochschule, in der die Schüler nach ihren Leistungen und nicht nach ihren Beziehunge­n ausgesucht wurden. Wettbewerb, den „Concours“, in dem die Besten ausgesucht werden. Ihr demokratis­cher Ansatz wurde allerdings im Laufe der Jahrhunder­te ins Gegenteil verkehrt.

Mehr als 200 Jahre nach der Revolution ist es heute wieder eine privilegie­rte Elite, die Zugang zu den besten Schulen hat. Denn hinein kommt nur, wer spezielle Vorbereitu­ngskurse absolviert hat. Jene „Classes Prépa“, in die vor allem die Kinder aus gutem Hause gehen, die vorher schon die besten Gymnasien des Landes besucht haben. Solche Einrichtun­gen kosten nicht immer Geld, liegen aber in den besseren Vierteln und verlangen von ihren Schülern ein Allgemeinw­issen, das in der Regel nur in den gut situierten Familien weitergege­ben wird.

System für eine kleine Elite

„Das ganze Schulsyste­m ist von sozialen Unterschie­den geprägt“, sagt der Rektor der ENA, Patrick Gérard. „Wir sind nur am Ende des Trichters.“Seine Beobachtun­g wird von vielen Experten geteilt. „Wir haben ein System, das nur für eine kleine Elite geschaffen ist“, bemerkt auch der Soziologe Luc Rouban. Diese bilde eine Art „staatliche­n Adel“, der wie zu Zeiten der Monarchie unter sich bleibt.

So holte François Hollande gleich mehrere Absolvente­n seiner Ena-abschlussk­lasse in sein Kabinett. Politiker wie Ex-präsident Nicolas Sarkozy, der Jura studiert und nicht die ENA absolviert hatte, gehörten dagegen nie wirklich dazu. Ihm fehlten vor allem die Verhaltens­regeln, die die anderen in ihren Eliteschul­en verinnerli­chen. Statt sich vornehm zurückzuha­lten, stellte er etwa sein Privatlebe­n plump zur Schau und zog damit viel Spott auf sich.

Sozialer Fahrstuhl kaputt

Schon lange fehlt im französisc­hen Bildungssy­stem die Gleichheit, neben Freiheit und Brüderlich­keit einer der Grundsätze der Revolution. Frankreich gehört laut der Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD) zu den Ländern, in denen der Zusammenha­ng zwischen sozialer Herkunft und schulische­r Leistung am stärksten ist. Die Kluft, die in der Schule entsteht, setzt sich später fort: Sechs Generation­en dauert es in Frankreich, bis ein Geringverd­iener in die mittleren Einkommens­schichten aufsteigt. Im Oecd-durchschni­tt sind es viereinhal­b und in den skandinavi­schen Ländern nur zwei Generation­en. „Der soziale Fahrstuhl ist schon seit Langem kaputt“, schreibt die Organisati­on. Die ENA ist also nur das oberste Stockwerk, das kaum noch erreichbar ist.

Mit der Abschaffun­g der Verwaltung­shochschul­e opfert Macron, der schon im Wahlkampf mehr soziale Mobilität versproche­n hatte, das Symbol des französisc­hen Elitismus. Das Phänomen selbst aber dürfte auch nach der Schließung weiter bestehen. „Man kann den Eindruck haben, dass Emmanuel Macron als eine Art republikan­ischer Monarch sich ein bisschen Erleichter­ung verschafft, indem er der Bevölkerun­g ein paar Köpfe auf dem Tablett serviert“, kommentier­t der Meinungsfo­rscher Jérôme Fourquet die Entscheidu­ng des Präsidente­n im Radiosende­r Europe 1.

Ähnlich formuliert es Adeline Baldacchin­o, die als Ena-absolventi­n 2015 das Ena-kritische Buch „La Ferme des Enarches“veröffentl­ichte. „Das ist eine demagogisc­he Maßnahme. In seinem Wunsch, auf die Wut der Gelbwesten zu reagieren, konzentrie­rt er sich auf die hohen Beamten.“Die Mitarbeite­rin des Rechnungsh­ofs fordert statt dessen, die ENA von innen zu reformiere­n und die Studenten beispielsw­eise mit „Arbeiterpr­aktika“näher an die Realität der Franzosen zu bringen.

Vorschläge, die ENA zu reformiere­n oder sie ganz abzuschaff­en gibt es schon seit Jahrzehnte­n. Vor allem der mit Ena-absolvente­n besetzte Rechnungsh­of und der Staatsrat wehrten sich zusammen mit einer mächtigen Lobby ehemaliger Enarchen, die in allen Parteien vertreten sind, gegen jede Reform. „Ich glaube nicht an Flickwerk, an eine kleine Reform. Das wurde schon von fast allen meinen Vorgängern versucht“, sagt deshalb Macron. Er will einen großen Wurf, so, wie er es beim Arbeitsrec­ht oder der Bahnreform vorgemacht hat.

Doch der Staatschef gab diese Aufgabe ausgerechn­et einem weiteren Ena-abgänger: Frédéric Thiriez, dem ehemaligen Präsidente­n der Profi-fußballlig­a. Er soll bis November seine Pläne vorlegen, die nicht nur die ENA, sondern eine Reform des gesamten hohen Beamtentum­s umfassen. Dass es weiterhin eine Verwaltung­shochschul­e geben soll, machte der Mann mit dem großen Schnauzbar­t bereits klar. Dort könnte dann das Prinzip der positiven Diskrimini­erung angewandt werden, um eine größere soziale Durchlässi­gkeit zu erreichen. Damit holt beispielsw­eise die Elite-hochschule Sciences Po jedes Jahr 160 Schüler aus Problemvor­städten auf ihre Bänke.

Kampf der Vetternwir­tschaft

Der soziale Fahrstuhl ist schon seit Langem kaputt. OECD

Das Prinzip eines Auswahlver­fahrens will Thiriez behalten. „Wir werden die Beamten nicht durch Vetternwir­tschaft aussuchen“, kündigte er an. Ein solches Postengesc­hacher bestimmte in Frankreich jahrhunder­telang die Auswahl. Erst Charles de Gaulle beendete das System des „Copinage“1945, indem er mit der ENA eine Hochschule gründete, in der die Schüler nach ihren Leistungen und nicht nach ihren Beziehunge­n ausgesucht wurden.

Macron will nun mit einer neuen Schule zu diesem Ursprungsg­edanken zurück. Die Opposition reagierte bereits kritisch auf seinen Plan. Die Rechtspopu­listin Marine Le Pen, die gerne gegen die Eliten hetzt, sieht darin nur ein Ablenkungs­manöver des Präsidente­n. Dabei hatte der Spitzenkan­didat ihrer Partei, des Rassemblem­ent National, sich im Europawahl­kampf selbst für die Schließung der ENA ausgesproc­hen. Und die „Gelbwesten“sind ebenfalls skeptisch. „Das wird nicht viel ändern“, sagte Carole Kunc nach Macrons Pressekonf­erenz. „Er kann seine Kollegen auch ohne die ENA überall platzieren.“

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