Der Vernunft verpflichtet
Postmoderne, mit ihrem oft in den Relativismus fallenden Denken, keine Option für Habermas war. Gegen den Neostrukturalismus, der die Subjektphilosophie verwirft, und damit auch das dieser Philosophie ihren Namen gebende autonome Subjekt, plädiert Habermas für ein kritisches Weiterführen der Moderne und konfrontiert die Positionen seiner Gegner mit ihren Aporien. So heißt es etwa zu Foucaults Machttheorie: „Einen Ausweg aus der Subjektphilosophie kann dieser Ansatz schon deshalb nicht eröffnen, weil der Machtbegriff, der für die konträren Bedeutungskomponenten den gemeinsamen Nenner bieten soll, dem Repertoire der Bewusstseinsphilosophie selber entnommen ist“(Jürgen Habermas, „Der philosophische Diskurs der Moderne“, Frankfurt am Main 1988, S. 322-323). Habermas weist hier auf die Unentrinnbarkeit des philosophischen Diskurses der Moderne hin. Wir sind derart von diesem Diskurs geprägt, dass selbst seine entschiedensten Gegner ihn unbewusst voraussetzen, wenn sie ihn kritisieren und verwerfen. Wir haben es hier mit jener Denkfigur zu tun, die man gewöhnlich den „performativen Widerspruch“nennt – so wie wenn jemand sagt: „Ich sage jetzt nichts“.
Seit dem Fall der Berliner Mauer und den sich in den 1990er-jahren ereignenden politischen Umwälzungen in Europa – etwa der Zerfall der UDSSR und Jugoslawiens – hat Habermas sich mehr und mehr mit Fragen der europäischen Politik befasst, wobei die Zukunft Europas und der Nationalstaaten zugleich thematisiert werden, dies auch vor dem Hintergrund internationaler Organisationen, wie etwa die Vereinten Nationen. In dem 1996 unter dem Titel „Die Einbeziehung des Anderen“verfassten Sammelband ist ein Teil der Frage gewidmet, ob der Nationalstaat noch eine Zukunft hat.
Der Nationalstaat, wie ihn Europa gekannt hat, bildete den Rahmen für die Entwicklung rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen, auf die Habermas auf keinen Fall verzichten, sondern die er vielmehr noch weiter entwickelt sehen will. Habermas stellt sich die Frage, was aus dem Ideal des autonomen Staatsbürgers wird, wenn die Nationalstaaten sich zusammenschließen und Teile ihrer Souveränität an überstaatliche Institutionen abgeben. Lässt sich auch auf der Ebene solcher Institutionen noch das Ideal des autonomen Bürgers verwirklichen? Habermas leugnet nicht, dass die heutige vernetzte Welt überstaatliche Regulierungsmechanismen braucht – den neoliberalen Gedanken der Selbstregulierung lehnt er ab – aber er kommt nicht an „der beunruhigende[n] Frage [vorbei], ob überhaupt eine demokratische Meinungs- und Willensbildung über die nationalstaatliche Integrationsstufe hinaus bindende Kraft erlangen kann“(Jürgen Habermas, „Der europäische Nationalstaat – Zu Vergangenheit und Zukunft von Souveränität und Staatsbürgerschaft“, in: ders., „Die Einbeziehung des Anderen: Studien zur politischen Theorie“, Frankfurt am Main 1996, S. 153).
In einer zuerst auf Englisch erschienenen Replik auf Dieter Grimm, der behauptet hatte, dass es eine föderalistische europäische Verfassung nur geben kann, wenn es auch ein homogenes europäisches Staatsvolk gibt, behauptet Habermas, dass die Herstellung eines „Kommunikationszusammenhang[s], der über die Grenzen der bisher nur national eingespielten Öffentlichkeit hinausgreift“wichtiger ist als eine Homogenisierung (Jürgen Habermas, „Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm“, in: ders., ebd., S. 190). Der Gedanke der Öffentlichkeit, den Habermas etwa dreißig Jahre früher in seiner Habilitationsschrift thematisiert hatte, taucht