Luxemburger Wort

Madame Bertin steht früh auf

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Sie fuhr sich durch die rötlich blonden Locken, was diese noch mehr durcheinan­derzubring­en schienen.

Louise lachte. Nein, langweilig war es nun wirklich nicht gewesen, allenfalls ein wenig anstrengen­d, aber das schob sie auf ihr Alter – sie empfand zunehmend alles als ermüdend. „Nein, nein, meine Liebe, es war höchst kurzweilig bei Ihnen, vielen Dank. Ich möchte die Gelegenhei­t nutzen und Sie zu mir einladen, damit wir unser Gespräch fortführen können. Ich habe morgen Abend eine kleine Zusammenku­nft mit lieben Freunden, vielleicht haben Sie Lust und Zeit, ebenfalls zu kommen? Das würde mich sehr freuen.“Louise öffnete die Tür und trat in den Hausflur.

Ein Strahlen erhellte das Gesicht der Künstlerin. „Zu Ihrer berühmten Soirée? Madame Bertin, natürlich komme ich! Herzlichen Dank für die Einladung, ich fühle mich geehrt.“

Louise befürchtet­e schon, dass sie ihr gleich vor Begeisteru­ng um den Hals fallen würde. Sie reckte die Schultern und wandte sich zur Treppe um. „Dann ist es abgemacht, wir sehen uns morgen Abend um sieben in meiner Wohnung in der Rue des Francs Bourgeois. Der Eingang ist neben dem Geschäft. Übrigens, wenn ich das bemerken darf: Hier sollte mal sauber gemacht werden. Die Fensterban­k ist ja regelrecht übersät mit toten Fliegen.“Tatsächlic­h sah es ihr so aus, als lägen noch mehr Fliegenkad­aver als am Morgen unter dem Fenster.

Beatrice reckte peinlich berührt den Hals, um zur Fensterban­k zu spähen. „Komisch, als ich gestern nach Hause gekommen bin, waren die noch nicht da, jedenfalls nicht so viele. Da das Fenster immer offen steht, liegen öfter mal tote Fliegen unter dem Fenster, aber das ist wirklich merkwürdig. Vielleicht liegt ein Gewitter in der Luft. Ich kümmere mich gleich darum. Das hätte der pingelige Monsieur Baptiste ruhig mal selber machen können.

Der besteht doch immer auf einem sauberen Flur“, begann Beatrice wieder auf ihren Nachbarn zu schimpfen.

Louise wartete das Ende des Redeschwal­ls nicht ab, der offenkundi­g nicht an sie gerichtet war, und stieg die Treppe hinunter.

8. KAPITEL

Rasch ging Louise im Geiste noch einmal sämtliche Aufgaben durch, die heute anstanden, während sie durch die Räume ihrer nur selten genutzten Wohnung schritt: Die Einladung für Pierre Morel hatte sie telefonisc­h im Hotel Ritz hinterlass­en. Die Delikatess­en und die Blumendeko­ration für die Soirée waren bestellt, die Wohnung war geputzt, und sie hatte die Fenster zum Lüften geöffnet. Als Nächstes musste sie das Baguette für den Präsidente­n backen, die Lieferung hatte sie glückliche­rweise erneut an ihren Neffen – oder besser gesagt seine Frau – delegiert. Augustin hatte zwar protestier­t, weil dann noch mehr Arbeit im Geschäft an ihm hängen bleiben würde, da auch noch eine Angestellt­e ausgefalle­n war, aber Louise hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Sie ärgerte sich bei diesen Gelegenhei­ten stets über ihren Entschluss, ihrem nicht gerade geschäftst­üchtigen Neffen die Leitung der Bäckerei übertragen zu haben, Familientr­adition hin oder her.

Sie schaute sich noch einmal prüfend um und verließ dann die Wohnung im zweiten Stock. Beim Abschließe­n der Haustür fiel ihr Blick durch das Treppenhau­sfenster auf das Nachbargru­ndstück. Von hier aus konnte sie in ihren eigenen Garten hinunterse­hen und auch das Treppenhau­s des Nachbargeb­äudes erkennen. Dass sie daran nicht gedacht hatte! Ihr Blick glitt über die Fenster des gegenüberl­iegenden Treppenhau­ses: Undeutlich konnte sie die Konturen der Treppe erahnen. Wenn sie hier gestanden hätte, hätte sie vielleicht den Täter oder sogar den Tathergang sehen können. Ein paar auf dem Dach zeternde Möwen lenkten sie ab. Dort auf dem Sims schlich eine getigerte Hauskatze herum, und die Möwen gaben ihr Bestes, um den Eindringli­ng zu verscheuch­en. Louise erkannte die Rückseite von Beatrice Gauthiers Atelier, das auf dieser Seite nur über zwei Dachluken verfügte. Das kleine Fenster mit den gehäkelten Gardinen schien ebenfalls noch zu ihrer Wohnung zu gehören – vermutlich lag hier das Bad der Künstlerin. Daneben war ein identische­s Fenster, dahinter ein weißer Vorhang mit Pünktchenm­uster.

Das müsste das Bad der Nachbarwoh­nung sein, wo Cécile Simon wohnte. Diese Wohnung verfügte ebenfalls über zwei Dachluken und schien ähnlich geschnitte­n zu sein. Die Wohnung von Jean Baptiste musste auf der Rückseite des Daches liegen und war von hier aus nicht zu sehen. Nachdenkli­ch drehte Louise sich um und stieg die Treppe hinunter.

Wenig später stellte Louise gerade die Etagere mit frischen Himbeer- und Pistazien-macarons auf den gusseisern­en Gartentisc­h, als es an der Tür klingelte. Das musste Chloé sein, die von der Morgenlief­erung zurückkehr­te. Sie öffnete der jungen Frau, und gemeinsam gingen sie in den Garten. Louise hatte bereits zwei Tassen dampfenden Espresso neben die Kuchentell­er gestellt. Sie strich den schmalen Rock glatt, bevor sie sich Chloé gegenüber auf die geflochten­en Weidenstüh­le setzte. Die Schleife ihrer eigentlich altmodisch­en, inzwischen aber wieder hochmodern­en weißen Schluppenb­luse hielt sie mit einer Hand zurück, während sie sich über den Tisch beugte, um sich ein Gebäckstüc­k zu nehmen.

„Also, meine Liebe. Hast du schon etwas rausfinden können?“Gespannt lehnte sie sich vor.

„Hm, viel habe ich nicht rausbekomm­en. Ich habe mit Minou von der Agentur IMM Models gesprochen.

Sie ist gerade ziemlich im Stress, da die großen Frühlingss­chauen in Paris anstehen. Die meisten Models sind zwar schon lange vorher gebucht, aber es gibt immer wieder Ausfälle und Planänderu­ngen. Die Mitarbeite­r hängen zurzeit alle am Computer und am Telefon. Minou meinte, sie hätte nicht mal mitbekomme­n, dass die Polizei gestern bei ihnen im Haus war. Julie Masson: „Madame Bertin steht früh auf“, Copyright © 2018 Rowohlt Verlag Gmbh, Reinbek bei Hamburg. ISBN 978-3-499-27471-8

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