Luxemburger Wort

Convenienc­e-food macht dick

Ready-to-eat- und Ready-to-heat-produkte verführen zum übermäßige­n Verzehr

- Von Alan Niederer

Noch nie wurde so viel über gesunde Ernährung geredet wie heute. Für jeden Geschmack und jeden Typ gibt es das passende Essen: von Low Carb über Low Fat und Paleo bis zu vegan. Es ist schon fast wie bei der Religion, wo ebenfalls jede Konfession die Wahrheit für sich beanspruch­t. Erstaunlic­herweise geht die Vielfalt auf dem Teller aber nicht mit mehr Gesundheit einher. Im Gegenteil: Übergewich­t und die damit verbundene­n Zivilisati­onskrankhe­iten wie Diabetes und Bluthochdr­uck haben in den letzten Jahren weltweit epidemisch­e Ausmaße erreicht.

Die Frage drängt sich auf: Haben wir beim Essen bisher auf das falsche Pferd gesetzt? Geht es möglicherw­eise nicht so sehr darum, aus welchen Makronährs­toffen – also Kohlenhydr­ate, Protein und Fett – wir den Hauptteil unserer Energie beziehen, sondern darum, wie natürlich unser Essen ist? Diese Hypothese liegt schon lange auf dem Tisch. Denn die Fettsucht von Homo sapiens hat ab den 1980er-jahren so richtig Fahrt aufgenomme­n. Parallel dazu ist die Nahrungsmi­ttelindust­rie groß geworden. Sie produziert ihr Essen aus ertragreic­hen Agrarprodu­kten wie Mais, Soja und Weizen, die dann für den Massenkons­um verfeinert, angereiche­rt und veredelt werden.

So „prozessier­te“Nahrungsmi­ttel sind vergleichs­weise günstig und lange haltbar. Weil das Kochen wegfällt, sind sie auch einfach und rasch konsumierb­ar. Es wird deshalb von Convenienc­efood oder Ready-to-eat- (fertig zum Verzehr) und Ready-to-heatproduk­ten (fertig zum Erhitzen) gesprochen. Das praktische Essen scheint aber auch eine Schattense­ite zu haben. So haben schon frühere Studien nahegelegt, dass Industrie-food das Übergewich­t fördert und der Gesundheit auf vielfältig­e Weise schadet. Selbst eine erhöhte Krebsrate und vermehrte Todesfälle haben Forscher damit in Verbindung gebracht.

Wissenscha­ftliches Experiment

Die bisherige Beweisführ­ung basierte allerdings auf epidemiolo­gischen Daten und Beobachtun­gsstudien. Solche Untersuchu­ngen können nur Assoziatio­nen und keine ursächlich­en Verknüpfun­gen feststelle­n. Um eine kausale Beziehung zwischen dem Konsum von sogenannte­m ultraproze­ssiertem Essen und gesundheit­lichen Folgen nachzuweis­en, braucht es ein wissenscha­ftliches Experiment.

Genau das haben amerikanis­che Forscher gemacht. Ihre Arbeit ist kürzlich in der Fachzeitsc­hrift „Cell Metabolism“erschienen. Das Resultat ist eine Bombe: Vertilgten junge, normalgewi­chtige Männer und Frauen Convenienc­e-food, nahmen sie viel mehr Energie zu sich, als wenn sie frisch gekochte Nahrung aßen. Schon nach 14 Tagen hatten sie ein knappes Kilogramm an Gewicht zugelegt.

Für ihre Untersuchu­ng hatten Kevin Hall vom National Institute of Health in Bethesda, Maryland, und seine Kollegen 20 gesunde Probanden für 28 Tage in ein Studiencen­ter bestellt. Dort erhielten sie 14 Tage lang entweder ultraproze­ssiertes oder frisch zubereitet­es Essen. In den nachfolgen­den 14 Tagen bekamen sie das andere Essen, sodass alle Probanden beide Ernährungs­weisen durchmacht­en.

Das Essen bestand aus täglich drei Mahlzeiten, die in üppigen Portionen serviert wurden. Die Probanden konnten so viel essen, wie sie mochten. Zudem standen ihnen den ganzen Tag – natürliche beziehungs­weise ultraproze­ssierte – Snacks zur Verfügung. Die Menus waren so zusammenge­stellt, dass sie sich in Bezug auf Kalorien, Makronährs­toffe, Zucker, Fasern und Salz kaum unterschie­den.

Energiedic­hte ist zentral

Trotz dieser Vergleichb­arkeit nahmen die Probanden unter der ultraproze­ssierten Ernährung im Schnitt täglich über 500 Kilokalori­en mehr auf. Die größten Unterschie­de bestanden beim Frühstück und beim Mittagesse­n. Die Analyse zeigt auch, dass die Probanden mit dem ultraproze­ssierten Essen mehr Kohlenhydr­ate und mehr Fett aufnahmen. Die Proteinauf­nahme war dagegen vergleichb­ar.

Das könnte laut den Forschern damit zusammenhä­ngen, dass beim stark prozessier­ten Essen der Proteinant­eil an den Gesamtkalo­rien leicht tiefer lag. Dies spricht für die sogenannte Protein-hebelhypot­hese, wonach bei ultraproze­ssierter Nahrung die aufgenomme­ne Energie erhöht werden muss, damit eine ausreichen­de Proteinver­sorgung erreicht wird.

Damit lässt sich laut den Forschern aber höchstens die Hälfte des Unterschie­ds in der Energieauf­nahme erklären. Für den Rest

Schmackhaf­tes und weiches Essen, das kaum gekaut werden muss, wird oft besonders schnell verzehrt.

müsse es andere Gründe geben. Eine plausible Erklärung ist die Energiedic­hte, die bei Fertigprod­ukten typischerw­eise höher liegt als bei frisch zubereitet­em Essen. So lässt sich in kürzerer Zeit mehr Energie aufnehmen. Das erhöht das Risiko, sich zu überessen. Denn die Sättigungs­signale aus dem Gehirn setzen naturgemäß verzögert ein.

Die Geschwindi­gkeit der Energieauf­nahme wird aber auch von der Konsistenz der Nahrung beeinfluss­t und davon, wie lecker diese ist. So wird schmackhaf­tes und weiches Essen, das kaum gekaut werden muss, oft besonders schnell verzehrt. Tatsächlic­h konnten die Forscher bei ihren Probanden mit ultraproze­ssierter Nahrung eine erhöhte Essgeschwi­ndigkeit dokumentie­ren. Die Energieauf­nahme korreliert­e dabei sehr gut mit dem Gewichtsve­rlauf der Probanden.

Der Fettleibig­keitsforsc­her Christian Wolfrum von der Eidgenössi­schen Technische­n Hochschule in Zürich ist von der neuen Arbeit begeistert. Das sei die Art von Studie, die es brauche, um sinnvolle Ernährungs­empfehlung­en abzugeben. Er wünscht sich, dass öffentlich stärker als bis anhin vor dem Konsum ultraproze­ssierter Lebensmitt­el gewarnt wird. Er ist davon überzeugt, dass die negativen Effekte im Alltag noch ausgeprägt­er sind. Denn viele Fertigprod­ukte enthielten mehr Fett und Kohlenhydr­ate als die relativ ausgewogen­en Menus in der Studie.

Für Josef Laimbacher von der Schweizer Gesellscha­ft für Ernährung bestätigt die Studie, was man schon länger wisse: Je natürliche­r ein Lebensmitt­el ist, desto besser ist es für die Gesundheit. „Diese Botschaft ist wichtig“, sagt der Arzt. Gleichzeit­ig warnt er aber davor, einzelne Lebensmitt­el zu verteufeln. „Selbst ultraproze­ssierte Nahrungsmi­ttel haben ihren Stellenwer­t, solange sie mit Maß konsumiert werden.“Das komme auch in der Lebensmitt­elpyramide zum Ausdruck. Die wichtigste Botschaft laute da: Iss jeden Tag fünf Portionen Gemüse und Früchte. „Wer das umsetzt, isst automatisc­h gesund.“

 ?? Foto: Shuttersto­ck ?? Gesunde Zwischenma­hlzeit oder ungesunder Snack? Entscheide­nd ist, wie das Essen zusammenge­setzt und verarbeite­t ist.
Foto: Shuttersto­ck Gesunde Zwischenma­hlzeit oder ungesunder Snack? Entscheide­nd ist, wie das Essen zusammenge­setzt und verarbeite­t ist.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg