Gipfelporträt: erst Premier, dann Pension
Brüssel. Für einen neuen Regierungschef gibt es gewiss unspektakulärere Gipfel-premieren. Bei ihrer Feuertaufe auf der Brüsseler Bühne darf Brigitte Bierlein, die geschäftsführende österreichische Premierministerin gleich beim Eupostengeschacher mitmischen, wenn es darum geht, Chefsessel für die kommenden Jahre zu besetzen. Und obendrein darf die frisch gebackene Kanzlerin mithelfen, europäische Antworten auf die drängende Klimafrage zu formulieren. Angesichts dieser konfliktgeladenen Agenda kann es dem Eu-gipfel nur gut tun, dass die 69jährige Wienerin, die seit Ende Mai im Amt ist, als konsensorientierte und besonnene Person gilt. Charakterlich ist sie das genaue Gegenteil vom bisherigen Kanzler; Sebastian Kurz, der infolge des Ibizagate das politische Opfer eines Misstrauensantrags wurde, fiel beziehungsweise fällt eher durch sein opportunistisches und das um jeden Preis das Rampenlicht suchende Wesen auf. Derlei ich-bezogene Merkmale sind der politischen Quereinsteigerin Bierlein fremd. Dennoch lässt die beachtliche berufliche Laufbahn, die die Neu-kanzlerin in der österreichischen Magistratur hingelegt hat, darauf schließen, dass sie durchsetzungsstark ist – und kompetent. „Wer wäre besser geeignet“, rechtfertigte Bundespräsident Alexander Van der Bellen seine Wahl, als er Bierlein zur Übergangskanzlerin ernannte. Womit sie die erste Frau ist, die in der Alpenrepublik den Posten des Regierungschefs ausfüllt. So wie sie schon die erste Frau war, die Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofes (2003) wurde und dort schließlich als erste Frau den Vorsitz übernahm (2018). Von Frauenquoten hält sie dennoch nichts; das sei ein Relikt aus vergangenen Zeiten, das Frauen nicht mehr bräuchten. Da sie mit ihrem 70. Geburtstag, den sie am kommenden Dienstag feiern darf, ihren schwarzen Talar an den Nagel hängen muss, braucht sich Bierlein, die sich früh einen Namen als Staatsanwältin machte, zumindest bis zur für September anberaumten Neuwahl keine Gedanken über beschäftigungslose Tage zu machen. Politisch gilt die Wienerin, die eigentlich Kunst studieren wollte, als wertekonservativ, sie soll sowohl der ÖVP von Ex-kanzler Kurz als auch der FPÖ nahe stehen – womit sie sich in Wien der notwendigen parlamentarischen Unterstützung gewiss sein kann. Und in Brüssel darf sie nun mitentscheiden, wer die EU fortan leiten soll – und wer folglich die Ansprechpartner von Sebastian Kurz, dem beste Chancen auf die Rückkehr ins Kanzleramt eingeräumt werden, sein werden. dv/mas