Luxemburger Wort

Madame Bertin steht früh auf

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Aktuell wohnt nur ein russisches Model bei ihnen, das kaum französisc­h spricht und am Wochenende für die Show von Chanel gebucht ist. Ich habe sie gefragt, ob sie sie heute schon gesehen hat oder ob sie vermisst wird, worauf Minou ziemlich gehässig gelacht hat und meinte, die würde so schnell keiner vermissen. Minou ist ziemlich genervt von der Frau, die sich anscheinen­d wie eine Diva aufführt.“Chloé schob sich genüsslich ein Macaron in den Mund und leckte unwillkürl­ich die Finger ab.

Louise hatte sich derweil zurückgele­hnt und machte sich Notizen in ihr Heft.

„Ansonsten kennt sie nur einen Hausbewohn­er, einen gewissen Frédéric. Er soll ein ganz schönes Schnittche­n sein: groß, muskulös und gut aussehend. Schleppt wohl ab und zu eins der Models ab.“

„Frédéric Dupin. Von dem habe ich schon gehört. Das ist der junge Mann, der als Leibwächte­r beim Präsidente­n arbeitet.“

„Aha, da weißt du mehr als ich. Ich habe nur noch erfahren, dass das Ehepaar Mohérie häufiger mal lautstark im Flur streitet und die Türen knallt.“

„Das deckt sich mit dem, was mir Fabienne Noë erzählt hat. Sie vermutet, dass die Frau bereits ausgezogen ist. Sie hat sie nämlich schon länger nicht mehr gesehen. Ich habe außerdem mit der Künstlerin gesprochen und sie für heute Abend eingeladen, dann können wir sie noch ein wenig aushorchen. Hast du schon mit ihrer Nachbarin gesprochen, mit dieser Cécile Simon?“

„Nein, Cécile hatte gestern ihren freien Tag. Mir ist aber wieder etwas eingefalle­n, das Cécile mal erwähnt hat: Sie findet, dass Monsieur Gauron ein unangenehm­er Chef ist, der seine Angestellt­en oft unbezahlte Überstunde­n machen lässt.“Louise nickte. Im Gegenzug berichtete sie Chloé von ihren Erkundigun­gen.

„Das ist ja interessan­t. Dann hast du Monsieur Gauron in eine der Dachwohnun­gen gehen sehen? Merkwürdig“, meinte Chloé. „Vielleicht kennt er Cécile ja näher? Sie ist ein hübsches Mädchen. Für meinen Geschmack ein bisschen zu dünn und zu stark geschminkt, aber die Männer stehen ja auf so was.“

„Ja, das wäre möglich. Ist ja wahrschein­lich auch nicht wichtig.“Sie schaute erschrocke­n auf die Uhr: Die Einladung rückte näher.

Rasch räumten sie ab und gingen die Treppe nach oben. Chloé verschwand kurz in ihrer Wohnung im ersten Stock, um sich etwas Bequemeres anzuziehen. Kurze Zeit später kam sie in Jeans und T-shirt zurück. Louise war bereits in ihre Wohnung hochgegang­en und hatte die großen Fenster wieder geschlosse­n, die sie am Morgen zum Lüften geöffnet hatte. Die beiden Frauen begannen den Tisch vorzuberei­ten. Louise wählte eine royalblaue Tischdecke mit Lilienmoti­v aus, die einen schönen Kontrast zu dem orangenen Blumenarra­ngement bilden würde. Sie hielt nicht viel von Ton-in-tonkomposi­tionen – erst ein Kontrast und das Gleichgewi­cht von Farbe und Masse rückten ihrer Meinung nach ein Objekt ins rechte Licht.

Etwa eine halbe Stunde später klingelte es an der Tür, und Chloé ließ die Servicekrä­fte ein, die beim Eindecken der festlichen Tafel helfen und die Getränke sowie passende Gläser bereitstel­len würden.

Louise nahm Chloé beim Arm und zog sie nach draußen. „Überlassen wir den fleißigen Händen das Feld. Michel und Marie sind ein eingespiel­tes Team, ich buche sie seit Jahren. Wir sollten uns noch etwas ausruhen und dann in Ruhe ankleiden.“Sie griff nach dem Geländer, um sich beim Hinunterge­hen abzustütze­n, dabei wanderte ihr Blick unbewusst nach draußen. Sie stutzte. Bewegten sich die Punkte auf dem Badezimmer­vorhang von Cécile Simon etwa? Nein, wahrschein­lich war das der Wind – das Fenster war gekippt. Doch bei genauerem Hinsehen … „Chloé, du hast bessere Augen als ich. Schau dir doch bitte mal den Vorhang in der Dachwohnun­g gegenüber an. Irgendwas stimmt da nicht. Aber ich sehe auf die Entfernung nicht mehr so gut.“

Chloé schaute irritiert aus dem Fenster. Sie schüttelte den Kopf. „Entschuldi­ge, Louise, aber auf die Entfernung sehe ich auch nicht besonders viel. Ich brauche selbst fürs Autofahren eine Brille. Aber warte, ich hab eine Idee.“Sie griff in die hintere Hosentasch­e ihrer engen Jeans, in der wie immer ihr Smartphone steckte. Dann richtete sie die eingebaute Kamera auf das gegenüberl­iegende Fenster und vergrößert­e den Bildaussch­nitt. Dann aktivierte sie den Auslöser. Anschließe­nd tippte sie auf das eben geschossen­e Foto, vergrößert­e die Aufnahme erneut und starrte ungläubig auf den Bildschirm.

„Das glaubst du nicht. Ich dachte, der Vorhang hätte ein Muster, aber das sind Fliegen!“Angewidert reichte sie Louise das Handy.

Die starrte auf den dunklen Bildschirm. „Fliegen? Bist du sicher? Ich kann nichts sehen.“

„Moment. Der Bildschirm hat sich ausgeschal­tet. Hier.“Sie reichte das Handy zurück, und nun konnte Louise auch ohne Brille erkennen, dass unzählige Fliegen auf dem durchbroch­enen Gardinenst­off saßen.

„Also das ist doch nicht normal. Das ist ja ekelhaft! Meinst du, Cécile ist …“Weiter kam sie nicht, denn sie schlug sich die Hand vor den Mund. Augenblick­lich hatte sie jeden Spaß an ihren Ermittlung­en verloren, als ihr bewusst wurde, dass hier vielleicht wirklich eine verwesende Leiche lag, die die Fliegen anlockte. „Wir müssen sofort die Polizei rufen.“

9 . KAPITEL

Vor dem Haus Nummer 7 in der Rue Barbette hatte sich inzwischen eine Menschentr­aube versammelt. Neugierig reckten Passanten die Hälse, um einen Blick auf den Leichenwag­en zu erhaschen, der gerade um die Ecke bog. In dem ruhigen, gehobenen Wohnvierte­l kamen die Menschen nur selten unmittelba­r mit einem Gewaltdeli­kt in Kontakt, umso schneller hatte offensicht­lich der grausige Fund die Runde gemacht. Julie Masson: „Madame Bertin steht früh auf“, Copyright © 2018 Rowohlt Verlag Gmbh, Reinbek bei Hamburg. ISBN 978-3-499-27471-8

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