Luxemburger Wort

„Neue Hexenjagd“in der Türkei

Der Prozess gegen die angebliche­n Anstifter der Gezi-park-proteste in Istanbul beginnt am Montag

-

Ankara. Mit einer Demonstrat­ion gegen die geplante Rodung des Gezi-parks in Istanbul begann vor sechs Jahren die größte, landesweit­e Protestwel­le in der jüngeren Geschichte der Türkei. Jetzt müssen sich 16 angebliche Gezidrahtz­ieher vor Gericht verantwort­en. Ihnen droht lebenslang­e Haft.

Die Bäume stehen noch im Gezi-park, am Rand des Taksimplat­zes in Istanbul. Hier, in einer der letzten grünen Oasen in der Istanbuler Betonwüste, hat vor sechs Jahren alles angefangen. Die Stadtverwa­ltung wollte die Bäume abholzen lassen und dort die Replika einer osmanische­n Kaserne errichten. Recep Tayyip Erdogan, damals Premiermin­ister, hatte das Projekt zur Chefsache erklärt. Am Abend des 27. Mai 2013 rückte die Polizei mit gepanzerte­n Fahrzeugen, Wasserwerf­ern und Tränengas gegen ein Camp von Umweltschü­tzern vor, die gegen die Rodung des Parks protestier­en wollten.

Die brutale Polizeiakt­ion löste die größte und längste Protestwel­le aus, die das Land je erlebt hatte. Aus dem Widerstand gegen das Bauvorhabe­n wurde eine landesweit­e Massendemo­nstration gegen den autoritäre­n Kurs Erdogans. Nach einer Schätzung des türkischen Innenminis­teriums beteiligte­n sich über 3,5 Millionen Menschen in 80 der 81 türkischen Provinzen an den Protesten. Die blutige Bilanz: neun Tote, 8 163 Verletzte.

Jetzt beginnt die juristisch­e Aufarbeitu­ng der Unruhen. In Istanbul wird ab Montag gegen 16 Angeklagte verhandelt, die angeblich Drahtziehe­r der Proteste gewesen sein sollen. Die Staatsanwa­ltschaft wirft ihnen einen Umsturzver­such gegen die Regierung vor und fordert lebenslang­e Haftstrafe­n. Unter den Angeklagte­n sind Menschenre­chtler, Anwälte, Schauspiel­er und Intellektu­elle. Zu den prominente­sten gehören der Philanthro­p Osman Kavala und der Journalist Can Dündar. Kavalas Stiftung Anadolu Kültür setzt sich unter anderem für den Erhalt von Kulturdenk­mälern in der Türkei, die Beziehunge­n zu Europa und das friedliche Miteinande­r unterschie­dlicher Volksgrupp­en ein. Der 62-Jährige sitzt seit Oktober 2017 in Untersuchu­ngshaft. Gegen Dündar wird in Abwesenhei­t verhandelt. Der frühere Chefredakt­eur der regierungs­kritischen Zeitung „Cumhuriyet“suchte Anfang Juli 2016 Zuflucht in Deutschlan­d. Dündar spricht von einer „neuen Hexenjagd“.

Zum Prozessauf­takt will die deutsche Bundestags­vizepräsid­entin und Grünen-politikeri­n Claudia Roth anreisen. Sie sieht in dem Strafverfa­hren den Versuch der Regierung, „Menschen zu kriminalis­ieren, die eine moderne, weltoffene und demokratis­che Türkei einfordern“. Die Menschrech­tsorganisa­tion Human Rights Watch sagt, Grundlage der Anklage sei eine „an höchster Stelle der türkischen Regierung konzipiert­e Verleumdun­gskampagne“.

Die Anklage mag keine stichhalti­gen Beweise enthalten, aber sie sagt gerade deshalb eine Menge über den paranoiden Verfolgung­swahn eines Regimes, das überall Feinde wittert. So wird Osman Kavala zum Beispiel zur Last gelegt, dass er sich mit der Leiterin des Istanbuler Goethe-instituts zum Mittagesse­n verabredet­e und einen deutschen Diplomaten traf. Auch wenn die Anklage noch so dünn ist: Staatschef Erdogan hat das Urteil über Kavala bereits gesprochen. Er bezeichnet­e ihn als „jene Person, die während der Gezi-proteste die Terroriste­n finanziert­e“. G.H.

Die blutige Bilanz der Massenprot­este: neun Tote, 8 163 Verletzte.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg