Gefangen in einer Welt ohne Worte
„Lautlos“von Anouk Mahr ist ein ehrlicher und authentischer Roman
Die 16-jährige Lucinda, genannt Cindy oder Luce, ist gefangen in ihrer Welt ohne Worte. Sie leidet an Mutismus, einer sehr seltenen, oft unbekannten, psychogenen Kommunikationsstörung, die oftmals in Verbindung mit einer Sozialphobie auftritt und in einem späteren Stadium häufig von Depressionen begleitet wird. Der bei Cindy diagnostizierte selektive Mutismus, der nur in spezifischen Situationen auftritt, ist im Übrigen die einzige Sprachstörung, von der mehr Mädchen als Jungen betroffen sind.
In der Hoffnung auf eine bessere gesellschaftliche Integration ziehen Cindys Eltern mit ihr in eine andere Stadt, um ihr einen Neuanfang außerhalb von Kliniken und Therapien zu ermöglichen. Das hochsensible intelligente Mädchen besucht hier zum ersten Mal eine reguläre Schule, und es gelingt ihr, unter enormer Selbstüberwindung mit der Unterstützung ihres Therapeuten erste zaghafte Kontakte zu Mitschülern zu knüpfen. Aber irgendwie fühlt sie sich weiterhin als Außenseiterin, die anders als ihre Gleichaltrigen ist.
Die entscheidende Wendung in Cindys Leben tritt erst ein, als sie auf einem Pferdehof den erblindeten Hengst Miracle kennenlernt, der ebenso verloren in der Welt zu sein scheint wie sie selbst: Anouk Mahr: „Lautlos“, Éditions Binsfeld, 360 Seiten, 22 Euro. Cindy beschließt zu kämpfen – für sich und für Miracle.
Allerdings birgt die anfänglich verständlicherweise allzu große Hoffnung auch die Möglichkeit von Rückschlägen – die Frage, ob Cindy nun einen neuen Freund und ihr ganz persönliches Wunder gefunden hat, bleibt über weite Strecken offen.
Viel Reitstallromantik
Wenngleich „Lautlos“ansatzweise leichte Anklänge von etwas (zu) blauäugiger Reitstallromantik aufweist, ist der jungen Autorin dennoch zugute zu halten, dass es ihr durchaus gelungen ist, über 350 Seiten eine kohärent strukturierte, sprachlich korrekte Erzählung aufzubauen, die ordentlich recherchiert wurde.
Die Figuren hätten bei aller Empathie, die Anouk Mahr offensichtlich an den Tag legen möchte, psychologisch klarer vertieft werden können. Ehrliche Authentizität kann man dabei aber der jungen Autorin durchaus bescheinigen.
Die im Jahr 2000 in Luxemburg geborene Anouk Mahr begann bereits als Kind mit dem Schreiben und wurde 2015 mit dem 3. Platz beim Jugendliteraturpreis „Prix Laurence“ausgezeichnet. Sie liest selbst gerne und interessiert sich persönlich insbesondere für die (psychischen) Probleme von Jugendlichen. Zur Thematik des Mutismus und der Pferdehaltung hat sich Anouk Mahr gründlich in Fachbüchern dokumentiert.
„Lautlos“ist übrigens das erste Buch in einer neu gestalteten Literaturserie, die pünktlich zum 40. Jubiläum der Éditions Guy Binsfeld mit einem ungewöhnlichen Umschlagdesign herausgebracht wird, bei dem vorderes und hinteres Cover gegeneinander ausgetauscht wurden.