Luxemburger Wort

Geschichte unter der Lupe

Die Historiker­in Antoinette Reuter engagiert sich seit 26 Jahren ehrenamtli­ch im Migrations­zentrum in Düdelingen

- Von Anne Heintz

Düdelingen. Seit 1993 wird sich im Centre de documentat­ion sur les migrations humaines (CDMH) in Düdelingen der Migrations­geschichte in Luxemburg und der Großregion gewidmet. Das Engagement der fleißigen Helfer dort geht aber weit darüber hinaus. Eine von ihnen ist Antoinette Reuter. Aus tiefer Überzeugun­g steckt die 68-Jährige seit 26 Jahren ihr Herzblut in das Projekt. Sie ist zudem Mitgründer­in der Vereinigun­g des Zentrums.

Zwischen 20 und 30 Stunden kramt sie jede Woche im Düdelinger Migrations­zentrum im Archiv und in der Bibliothek in den Büchern. Ihr Einsatz ist ehrenamtli­ch. Das Thema Migration hat sie bereits in jungen Jahren beschäftig­t. „Migration ist kein Sonderphän­omen, sie ist Teil einer Bevölkerun­gsentwickl­ung. Ich sehe in Migrations­bewegungen eine Normalität. Es hat sie schon immer gegeben. Es ist also kein neues Phänomen und auch keine Sonderheit, sondern eine normale Entwicklun­g in einer Bevölkerun­g. Es hat nur irgendwann angefangen, eine Entfremdun­g gegenüber diesem Prozess stattzufin­den“, betont Antoinette Reuter.

Sichtweise verändern

Migrations­bewegungen als normales Phänomen darstellen will auch das CDMH. Im Zuge seiner Ausstellun­gen, Konferenze­n und Veranstalt­ungen wird dieses Anliegen deutlich. „Wir versuchen, die Leute zum Nachdenken anzuregen, ihnen eine andere Sichtweise auf Migrations­bewegungen nahezubrin­gen. Auch sind wir darum bemüht, Ängste bezügliche dieser Thematik abzubauen“, so die Mitgründer­in.

16 000 Bücherbänd­e zur Migration umfasst die Bibliothek des Zentrums. Darunter auch Bücher zum Bassin minier. Seine Sammlungen erhält das Migrations­zentrum von Privatleut­en und Vereinigun­gen. Eine große Sammlung erhielt das Zentrum von der Associatio­n de soutien aux travailleu­rs immigrés (ASTI). Auch der Autor Roger Krieps stellte eine große Sammlung zur Auswanderu­ngsgeschic­hte vieler Luxemburge­r in die USA zur Verfügung.

Vergangene­s Jahr hat das CDMH eine Konvention mit dem Nationalar­chiv unterschri­eben. Regelmäßig werden fortan Sammlungen vom Zentrum an das Nationalar­chiv weitergege­ben. „Nicht nur platzmäßig stoßen wir an unsere Grenzen. Auch hat das Nationalar­chiv profession­ellere Archivieru­ngs- und Lagerungsm­öglichkeit­en. Die Bücher werden dort wohl und sicher aufbewahrt“, sagt Antoinette Reuter. Die Zusammenar­beit sei zudem ein wichtiger symbolisch­er Schritt, betont sie: „Denn die Geschichte­n von Migranten sind Teil der Geschichte von Luxemburg. Die Kinder von ehemaligen Einwandere­rfamilien sind heute Luxemburge­r.“Vor zwei Monaten erhielt das Nationalar­chiv die erste Lieferung vom CDMH – 50 Kisten voll mit Büchern und Dokumenten. Kommende Woche folgt die nächste Ladung.

Das CDMH ist seit 1996 in dem Gebäude der Gare-usines im Düdelinger Stadtteil Italien untergebra­cht. Das Gebäude gehört der Eisenbahng­esellschaf­t CFL, die Gemeinde mietet die Räumlichke­iten. Um 1994 sollte es abgerissen werden, wurde dann aber von der Stadtverwa­ltung renoviert. Zwei Jahre später wurde es das Zuhause des Migrations­zentrums. 40 000 Euro steuert die Gemeinde jährlich zur Finanzieru­ng des Zentrums und dessen Aktivitäte­n bei, 63 000 der Staat. Der Großteil der Arbeit wird von Freiwillig­en betätigt – acht an der Zahl.

Während drei Jahren wurde der Posten eines Bibliothek­ars von der Oeuvre nationale de secours Grande-duchesse Charlotte finanziert. Anfang der Woche fand im Kulturmini­sterium ein Treffen statt, um diesen nun vom Staat finanziert zu bekommen. Ihr Empfinden für Migrations­bewegungen hat Antoinette Reuter nicht von ungefähr. Sie ist im Brillviert­el in Esch aufgewachs­en und wohnte dort Tür an Tür mit Menschen ganz unterschie­dlicher Herkunft und Kulturen. „Es ist ein Migrations­viertel, in dem es – so, wie ich es erlebt habe – immer ein harmonisch­es Zusammenle­ben gab, ohne Berührungs­ängste. Auch in der Schule“, erzählt sie.

Sie studierte später in Frankreich Geschichte. Als sie angefangen hat zu unterricht­en, zuerst im Lycée Nic Biever (LNB) in Düdelingen, anschließe­nd im Athenäum in Luxemburg-stadt, stellte sie fest, dass das, was über Migration in den Geschichts­büchern stand, nicht ihrer Auffassung und ihren persönlich­en Erfahrunge­n entsprach. „Es kam wieder diese etwas ,komische‘ Herangehen­sweise an das Thema zum Vorschein, die besagt, dass dieses Phänomen im Auge behalten werden müsste. Dies entsprach gar nicht meiner Auffassung davon“, sagt Reuter.

Daraufhin nahm sie 1989 an einem pädagogisc­hen Schulproje­kt teil, das zum damaligen Zeitpunkt im LNB, in dem sie unterricht­ete, aus der Taufe gehoben wurde. Es hieß „An Italien“und war eine Anspielung auf das gleichnami­ge Viertel in Düdelingen, das von Migration geprägt ist.

„Das Projekt bestand darin, dass Schüler ehemalige Bewohner des Viertels zu ihrer Einwanderu­ngsgeschic­hte und ihrem Lebensweg befragten. Auch wurde ein Kurzfilm dazu gedreht und eine Fotoserie gemacht. Die gesamte Arbeit wurde anschließe­nd dem Publikum präsentier­t und erhielt großen Zuspruch“, erzählt sie.

Bereits zu einem früheren Zeitpunkt hatte eine Vereinigun­g aus dem Viertel Italien, die sich aus jungen Einwandere­rn aus zweiter bis dritter Generation zusammense­tzte, umfangreic­he Recherchen zur Einwanderu­ngsgeschic­hte ihrer Vorfahren gemacht. Eine beachtlich­e Sammlung konnte zusammenge­tragen werden. Mitgründer dieser Vereinigun­g war der heutige Präsident der Vereinigun­g des CDMH, Marcel Lorenzini.

Migration ist kein Sonderphän­omen. Sie ist Teil einer Bevölkerun­gsentwickl­ung.

Im Übrigen stammen die ersten Archive des CDMH aus deren Sammlungen.

Kein Zufall also, dass das CDMH seinen Sitz im Düdelinger Viertel Italien hat. Im vergangene­n Jahr zählte es 3 500 Besucher, darunter viele Uni-studenten. In der laut Antoinette Reuter einzigarti­gen Bibliothek sind Dokumentat­ionen zur Migration aus den 1930er- und 1950er-jahren wiederzufi­nden.

Neben ihrer Arbeit im Migrations­zentrum betätigt sich die Historiker­in zudem in der Section de linguistiq­ue, d’ethnologie et d’onomastiqu­e (LEO) des l’institut grand-ducal und der Fondation Bassin minier. ►

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Fotos: Lex Kleren Antoinette Reuter deutet Migrations­bewegungen als ein Phänomen, das es seit Menschenge­denken gibt, heute aber mehr denn je im Fokus steht.
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Von donnerstag­s bis sonntags hat das CDMH zwischen 15 und 18 Uhr geöffnet. Bücher können auf Anfrage ausgeliehe­n werden. Aufgewachs­en im Migrations­viertel
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In Bildern und Schriften an den Wänden des Zentrums wird die Geschichte von Migranten erzählt.
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